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Utopia & Lost Futures: Zur Geschichte und Aktualität des Rätekommunismus

Historisches Phänomen - Weg in die befreite Gesellschaft?

November 2022. Vortragsnotizen von Clara Zeppelin


  1. „Etwas fehlt…“: Die befreite Gesellschaft und der Betrug der Realität

  2. Die Anfänge des Rätekommunismus: Selbstbefreiung und Autonomie

  3. Keine Hoffnung aus dem Osten: Rätekommunismus und Kritik an der SU

  4. Wie weiter? Rätekommunismus als Weg in die befreite Gesellschaft?


1. „Etwas fehlt…“: Die befreite Gesellschaft und der Betrug der Realität

Wir sind uns alle einig: Die Welt könnte besser sein und sie müsste besser sein!

Offensichtlich: Klimakrise und Umweltzerstörung, Kriege, Pandemien und Armut für den größten Teil der Menschheit

Weniger offensichtlich: Der alltägliche Zwang, die eigene Arbeitskraft zu Markte zu tragen, die sich im Zeitalter des Neoliberalismus nur noch individualisiert hat

Die Unterdrückungsmechanismen sind verschleiert, sie erscheinen als Natur, als schon immer dagewesene, als nicht veränderliche → Eine Kritik dieser ist seit dem Untergang des Realsozialismus noch viel schwerer geworden

Jeder Vorschlag der Veränderung: Wird als nicht umsetzbare Utopie “entlarvt”: Der technisierte Kapitalismus als das „kleinste Übel“ → wobei sich schon fragen lässt, was genau „klein“ an diesem Übel ist

Technisierter Kapitalismus → Kapitalistischer Realismus → Inszenierung als endlose Realität


Adorno in Bezug auf Erfüllung utopischer Träume, durch die Realität wirkt als wäre das Beste vergessen worden:

„(…) durch die Erfüllung der Wünsche um den Inhalt der Wünsche betrogen [...], wie in dem Märchen, wo dem Bauer drei Wünsche freigegeben sind und er dem ersten – ich glaube – seiner Gattin eine Wurst an die Nase wünscht und einen zweiten Wunsch dann dazu benutzen muss, diese Wurst von der Nase wieder wegzuwünschen.“


Aber ist der Kapitalismus damit wirklich das Ende der Geschichte und jegliche Utopie verboten?


In der Linken verbreitet: Bilderverbot, das auf die Kritische Theorie um Adorno und Horkheimer zurück geht und besagt, dass man im jetzigen Zustand einer unfreien Gesellschaft sich keine Utopien auspinseln dürfe, da diese immer einen unfreien Charakter behielte

Oftmals haben wir aus einem falschen Verständnis deshalb gar keine Ideen mehr, wir rufen auf Demos zwar Sprüche, aber konkreter wird es dann nicht: Das System ist auf Sand gebaut/ Unter der Straße liegt der Strand/ Es muss ums Ganze gehen → alles nicht falsch aber es erscheint wie ein Traum, den man eh nicht erreicht

Der (historische) Rätekommunismus als Antwort auf die Frage, wie im Hier und Jetzt der Aussichtslosigkeit entgegengewirkt werden könnte, wie progressive Bewegungen sich nicht an den Antagonismen der gegenwärtigen Gesellschaft abrackern, dass sie nicht wieder Sozialdemokratie, sondern tatsächliche Antagonismen werden, damit es doch besser werden kann?

Es geht also darum: Das Nicht-Erfüllte zu bestimmen (Felix Klopotek)



2. Über die Anfänge des Rätekommunismus: Selbstbefreiung und Autonomie

Historische Beispiele, die bekannt sind: Räterepublik hier in München 1919, Kronstädter Aufstand 1921, der Mitteldeutsche-Aufstand 1921


Marx über die Pariser Kommune 1871: Sie sei „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“


„Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Wiederbelebung durch das Volk und des eigenen gesellschaftlichen Lebens. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andere zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen, …. Die Kommune war die entscheidende Negation jener Staatsmacht und darum der Beginn der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts. Was daher immer ihr Geschick in Paris ist, sie wird ihren Weg um die Welt machen.“ Karl Marx. „Bürgerkrieg in Frankreich“, MEW Bd. 17, S.342


Aufforderung an die Arbeiterbewegung: „Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.“


Kritik der politischen Arbeitsteilung, der Repräsentation, des Systems der Trennungen

Aber: Die europäische Arbeiterklasse versagte ihr die Solidarität → Der utopische Faden Riss, aber Form des Rates blieb


Es kam zum bekannten Streit zwischen Marx und Bakunin: Exemplarisch für den unwiderruflichen Bruch zwischen „marxistischer“ und „anarchistischer“ Arbeiterbewegung → erst 30 Jahre später entwickelte sich eine neue Form radikalen Denkens an den Rändern der Arbeiterbewegung, die über diesen Bruch hinwegging


Erfahrungen aus der russischen Revolution 1905 und den Massenstreiks in Europa führten zur Entstehung von Arbeiterräten


Entstehung von Arbeiterräten: In ihnen fallen die Überwindung kapitalistischer Ausbeutung und Ablehnung bürgerlich-parlamentarischer Politik zusammen → waren ein internationales Phänomen von Russland bis Länder in West- und Mitteleuropa

Theoretiker*innen: am äußersten linken Flügel der sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien: Rosa Luxemburg, Otto Rühle, Anton Pannekoek, Leo Trotzki // Deutsch-Holländische Linke


Pannekoek als maßgeblicher Theoretiker der Strömung


Organisationsstrukturen: Arbeiterunionen AAU und KAPD


Niedergang der deutschen Rätebewegung: „Denn die sozialdemokratisch dominierte deutsche Rätebewegung im Herbst/Winter 1918 endete in einer Farce: Sie ermächtigte sich selbst und arbeitete an der Integration ins parlamentarische System”


Höhepunkt und Untergang der rätekommunistischen Bewegung als Massenbewegung: Die „Mitteldeutschen“, vogtländischen März-Kämpfe von 1921


Als nach 1923 die insurrektionalistische Streikbewegung in Deutschland endgültig abgeebbt ist, ist die KAPD – und auch die AAU – zerfallen in Richtungen und Fraktionen, ein Teilungsprozess der sich fraktal fortsetzt. Die Rätebewegung entwickelt sich zur uneingelösten Utopie


Theoretische Basis von Paul Mattic zusammengeführt: Das Prinzip des proletarischen Aufstandes ist eben nicht die Machtergreifung, die Ablösung einer Elite durch eine andere, sondern die unmittelbare Regelung der sozialen Bedürfnisse der bislang Abhängigen: Weil angesichts des totalitären Kapitalismus alle Organisationsformen der Arbeiterbewegung sich als kapital-konform und elitär erwiesen haben, bleibt nur die Selbstorganisation in Räten. Es ist Notwehr


Das Notwehr-Prinzip: Verkörpert Lebenskunst



Kernaspekte rätekommunistischer Theorie:

  • Im Moment seiner höchsten Machtverdichtung, nämlich der monopolistischen, setzt bereits die Niedergangsphase des Kapitalismus ein. Bringt die Notwendigkeit seiner sofortigen Überwindung mit sich – die Alternativen wären Krieg, Verwüstung, offene Diktatur des Kapitals im Faschismus

  • Organisationsform, die den bürgerlichen Staat ablöst, ist der Arbeiterrat → Selbstorganisation der Arbeiter – impliziert die vollständige Kontrolle über den Produktionsprozess, der durchgehend vergesellschaftet ist

  • Bouregoisie und Sozialdemokratie manipulieren, regulieren, formen die Massen demokratisch → Trennung von Politik und Ökonomie und die Verherrlichung des Individuums als geschichtlicher Akteur

  • Verweigerung jeglicher Teilnahme an den Institutionen und den Ritualen der Klassenkollaboration, Ablehnung des tradierten – auf Berufe bezogenen – Gewerkschaftswesens

  • Kritik der Sowjetunion

  • Das Positive muss entdeckt werden

„Zur proletarischen Subjektivität gehört nicht nur die Schönheit der Selbstermächtigung: Die ‘Innenseite’ des Faschismus, sei`s der ‘autoritäre Charakter’, sei`s das antisemitisch angetriebene Mitmachen großer Teile des Proletariats in Deutschland, haben die Theoretiker des Rätekommunismus nicht ins Zentrum ihrer Analysen gestellt“



3. Keine Hoffnung aus dem Osten: Rätekommunismus und Kritik an der SU

„Alle Macht den Räten“ der Bolschewiki wurde nie umgesetzt → autoritärer Staatskommunismus

1921: Die Matrosen im Kronstädter Aufstand forderten die Rückkehr zu der Rätedemokratie → Vier Jahre nach dem die Bolschewiki die Staatsmacht militärisch und erobert und symbolisch an die Räte übertragen hatten, waren die Räte faktisch aller Macht beraubt


Kritik schon vor Kronstadt:

Luxemburg: Es ist allein der autonome Kampf, der die Kämpfenden sowohl gegenüber dem Opportunismus als auch im Hinblick auf die bestehenden Herrschaftsverhältnisse schult.“

Trotzki und Luxemburg verteidigen gegenüber Lenin das „Primat der sozialen Emanzipation“


Betonung von Holländischen Rätekommunisten: Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst; Bewusstsein und der Geist der Arbeiter daher entscheidend sind → Ablehnung des Parteimodells


Weiterer Kritiker: Otto Rühle und Franz Pfemfert


Franz Pfempfert: „Aber diese Weltreaktion ist nicht nur der privatkapitalistische Staat, sondern auch das Regierungssystem des Staatskapitalismus. Die Weltreaktion ist Moskau.“


Otto Rühle: „In Russland hat sich auch praktisch herausgestellt, was theoretisch selbstverständlich ist: dass eine zentralistische Partei (…) niemals Räte zu schaffen imstande ist. (…) Russland hat die Bureaukratie der Kommissariate. (…) Es hat kein Rätesystem. Die in öffentlichen Wahlen, nach Parteilisten und unter unerhörtem Regierungsterror zustande gekommenen Sowjets sind keine Räte im revolutionären Sinne. Sie sind Rätekulissen. Sind eine politische Täuschung. Ein Weltbetrug. (…) Die Partei verhindert Russland, zum Rätesystem zu kommen. Ohne Räte aber kein sozialistischer Aufbau, kein Kommunismus. Parteidiktatur ist Bureaukratieherrschaft, ist Despotie, ist Staatskapitalismus, ist schlimmere Ausbeutung und Knechtschaft.“ (Otto Rühle) (S.161/162)


Der bolschewistische Terror wird als bürgerlich charakterisiert, weil er gerade nicht dem kommunistischen Emanzipationsbestreben folgt


Der Rätekommunismus als diejenige Gestalt der radikalen Arbeiterbewegung, die politischer Hinsicht äußerst konsequent mit den Verkehrsformen bügerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung brach – verteidigte die Arbeiterselbstbefreiung gegen die Parteiapparate der Sozialdemokratie und Bolschewismus


Historische Grenzen: Nicht frei von geschichtsphilosophischem Ökonomismus und Determinismus



4. Wie weiter? Rätekommunismus als Weg in die befreite Gesellschaft?

Angestaubte Hoffnung der Rätekommunisten auf die Selbstbefreiung der Arbeiter? Was bedeutet das im neoliberalen Kapitalismus? Wie entsteht ein Revolutionäres Subjekt? All das lässt sich hier in der Kürze nicht beantworten und soll auch nicht beantwortet werden


Was uns die Geschichte des Rätekommunismus zeigt: Einen Ausweg aus der Ausweglosigkeit, eine Verbesserung/ einen Ansatz im Hier und Jetzt der sich eben nicht mit dem Staat und seinen Institutionen gemein macht, sondern antogonistisch ist und bleiben soll


Bezug zu Adorno und dem Bilderverbot: “Dass man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre – das lässt sich konkret und das lässt sich ohne Ausmalen und das lässt sich ohne Willkür sagen”


Die Freundinnen und Freunde der Klassenlosen Gesellschaft: Umrisse der Weltkommune


Gedanke: Leidenschaft die in einer befreiten Gesellschaft zwanglos produktiv werden könne


In Bezug auf Anton Panekoek: Keine sinnlosen Jobs sondern nur travail attractif: In Arbeit, die nicht unter dem Kommando eines Chefs, sondern in freier Kooperation mit anderen stattfindet, die nicht nur auf maximalen Output zielt, sondern, „die Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen“ der Produzierenden bildet. Durch Rotation und entsprechend kurze Ausübung schließlich könnten selbst dröge Tätigkeiten annehmbar sein.“


„Es gibt keine Trennung zwischen Politik, als der Lebensbeschäftigung einer Gruppe von Spezialisten, und Wirtschaft, als Lebensbeschäftigung der großen Masse der Produzenten (…) Die Räte sind keine Politiker, keine Regierung. Sie sind Boten, die die Meinungen, die Absichten und das Wollen der Arbeitergruppen vermitteln und überbringen.“


Nicht einmal „die zentralen Räte haben regierungsartigen Charakter“, denn „sie besitzem keine Gewaltmittel“ → ein Staat als von der Gesellschaft getrennte Zentralgewalt existiert nicht mehr


Technischen Fortschritt nicht mehr für das Kapital, sondern um unnötige Arbeit überflüssig zu machen, nicht jeder technischer Fortschritt im Kapitalismus ist nutzbar


Aus der Irrationalität der jetzigen Ordnung: Konturen eines freien Gemeinwesens: Umbau des Maschinenparks nach den Bedürfnissen der Produzentinnen, Abschaffung sinnloser, Automatisierung ermüdender und ansprechende Gestaltung immer noch notwendiger Tätigkeiten, wenn gar nichts anderes hilft, Rotation immer noch notwendiger, aber weiterhin unangenehmer Aufgaben, Ende der Lohnarbeit und jeder Kopplung von Konsum an Leistung, Entfaltung eines wirklich gesellschaftlichen Reichtums


Es gibt keine Trennung zwischen Politik, als der Lebensbeschäftigung einer Gruppe von Spezialisten, und Wirtschaft, als Lebensbeschäftigung der großen Masse der Produzenten (…) Die Räte sind keine Politiker, keine Regierung. Sie sind Boten, die die Meinungen, die Absichten und das Wollen der Arbeitergruppen vermitteln und überbringen.“


Der Übergang in die Commune erscheint nur als wilde Bewegung der Besetzungen vorstellbar, die sich allem bemächtigt, was für sie von Nutzen ist – Wohnraum, öffentliche Gebäude, Betriebe, Ländereien, Transportmittel-, oder aber blockiert und sabotiert, was stillgelegt werden muss.


Unnötige Jobs auflösen, Rotation und keine Spezifizierung, Arbeitsteilung aufheben, Gegen den Staat und die Gewerkschaften, könnten Formulierungen in diese Richtung sein.


„Räte allein stellen kein emanzipatorisches Potential dar, keine Verwirklichung der Autonomie, sie sind eine notwendige, keine hinreichende Voraussetzung, auch das kann man vom Rätekommunismus lernen“




Literaturreferenzen und Quellen sind auf Anfrage verfügbar.

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