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Utopia & Lost Futures: Nach der Utopie. Zur Ideengeschichte linker Melancholie

Juni 2022. Vortragsnotizen von Mario Cravallo


Ob nach der Niederschlagung der Pariser Commune 1871, nach dem Scheitern, die Oktoberrevolution auch auf Westeuropa und Asien in den 1920er Jahren auszubreiten oder nach dem Ende des Realsozialismus 1989 – 1992: Die Tradition der Niederlagen der revolutionären Linken wird von einem dunklen Schatten der Melancholie begleitet. Gleichsam als kleinbürgerliche Empfindsamkeit denunziert, leben die enttäuschten Hoffnungen der gescheiterten Revolutionär*innen auf Befreiung in der Melancholie, die notwendigerweise verdrängt wird, und doch nach jeder Niederlage in revolutionären Kämpfen wiederkehrt.


Der Vortrag gibt zunächst einen Überblick über die Ideengeschichte linker Melancholie und versucht in einem zweiten Schritt, dieses Phänomen aus einer unauflösbaren Spannung zwischen geschichtlicher Kontinuität und revolutionärem Bruch als säkularisierter Eschatologie im Zeitalter der Entzauberung der Welt zu erklären.


Beim Vorbereiten musste ich mir eingestehen, dass ich weniger einen wissenschaftlichen Fachvortrag als eine Art auditives Essay verfasst habe, habe es aber jetzt dabei belassen, weil es eh mehr Freude beim zuhören bereitet. Vielleicht können wir ja in der Diskussion etwas auf die wissenschaftliche Dimension des Ganzen noch eingehen, auch wenn es sicherlich spannendere Sachen zum Diskutieren gibt, Fußball oder das Wetter zum Beispiel.



I. Revolution und Melancholie – Passagen ihrer Ideengeschichte

Auf dem Höhepunkt des Stalinismus, im Jahr 1938 steht der ehemalige sowjetische Spitzenfunktionär und wichtige bolschewistische Theoretiker Nikolai Bucharin mit anderen in einem Schauprozess in Moskau vor Gericht. Im sogenannten dritten Moskauer Prozess ist Bucharin als Teil eines „antisowjetischen Blocks von Rechten und Trotzkisten“ angeklagt. In seinem erzwungenen Geständnis bekennt er sich nicht nur zu antisowjetischer Sabotage und Terrorismus, sondern auch einer„defätistischen Orientierung“, die sich niederschlägt in „Lähmung des Wissens, Hemmung der Reflexe“ und einen Ausdruck dessen, „was in der Philosophie Hegels das unglückliche Bewußtsein genannt werde.“ [1] Bucharins „Selbstdiagnose“ seiner Melancholie enttarnt ihn für Stalins Henker als konterrevolutionären Agenten. [2] Im Gegensatz zur heroischen, entschlossenen, kämpferischen, sich selbst wie anderen gegenüber harte*n Berufsrevolutionär*in erscheint ein*e melancholische*r oder depressive*r Kommunist*in als bewegungsfeindlich, schwach und kleinbürgerlich. In der Folge wird Bucharin zum Tode verurteilt und sofort erschossen.


Auch wenn dieses Beispiel einen Extremfall linker Geschichte zitiert, so illustriert es doch den innerhalb linker Bewegungen hegemonialen Umgang mit der Schwermut, die die Revolutionär*innen erfasst, wenn ihre Revolutionshoffnungen nicht erfüllt wurden. Gleichzeitig verfolgt aber die Melancholie alle linken Revolutionsversuche, sie ist oft die Reaktion auf den Ausgang der Kämpfe. Alle großen linken Versuche eines Umstürzens der bestehenden Ordnung umfassten eine melancholische Nachträglichkeit. Oft ist sie ein Ergebnis der erschöpfenden Arbeit von Berufsrevolutionär*innen; spätestens aber nach der geschlagenen Schlacht, unabhängig ob diese mit einem Sieg oder, häufiger, mit einer Niederlage geendet hat, wird sie häufig ein Massenphänomen. So arbeitete Bini Adamczak am Beispiel der Oktoberrevolution heraus, wie tausende bolschewistische Kader, deren Lebensinhalt bisher in ihrem Kampf als im Untergrund agierende Kaderpartei gegen das zaristische Regime bestanden hatte, mit dem langsamen und konstruktiven Aufbau einer sozialistischen, post-revolutionären Ordnung nicht zu Recht kamen und deswegen in eine post-revolutionäre Depression fielen. [3]


Besonders präsent ist linke Melancholie dementsprechend in den Jahren und Jahrzehnten nach großen Erhebungen der revolutionären Linken, die zumeist in der ein oder anderen Hinsicht Niederlagen darstellen: Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871, dokumentiert in Romanen und Biographien unter anderem von Auguste Blanqui, Jules Vallès und Louise Michel; als Reaktion auf die enttäuschten Versuche, die russische Revolution in Ungarn, Bayern, Bremen, dem Ruhrgebiet, Norditalien, China zu internationalisieren; aber auch als Reaktion auf die Realpolitik des jungen Sowjetstaates, die bald nur noch wenig mit dem utopischen Ideal vieler Revolutionär*innen zu tun hatte, wie bei Andrej Platonov. Melancholie war das Lebensgefühl einer ganzen Generation von linken Aktivist*innen, als der neue, weltweite revolutionäre Anlauf 1968 die Hoffnungen nach einem revolutionären Aufbruch enttäuschte, die viele Militante der Protestbewegungen in sie setzen. Im deutschsprachigen Kontext finden sich die eindrucksvollsten Schilderungen linker Melancholie nach 1968 wohl in den Romanen „Lenz“ von Peter Schneider und „Heißer Sommer“ sowie „ROT“ von Uwe Timm. [4] Und auch in der Jetztzeit ist linke Melancholie präsent: Nach der nicht mehr nur moralischen, sondern auch materiellen endgültigen Niederlage des Realsozialismus, dessen Bedeutung auch viele revolutionäre Linke spüren, die sich selbst antiautoritär und in Opposition zu den sozialistischen Diktaturen des Ostblocks verortet hatten. [5]


Bereits in diesem kurzen historischen Problemaufriss wird deutlich, dass Melancholie einen persistenten Topos linker Vergangenheitspolitik darstellt. Neben der geschichtlichen Serie linker Revolutionsversuche besteht eine „Tradition der Niederlagen“ [6], sodass sich die Geschichte linker Melancholie als Verschiebung dieser zwei Serien zeichnen lässt: Auf jeden Versuch, den Himmel zu stürmen, folgt der Fall auf die Erde, schmerzhaft, katastrophal und insbesondere auf der Mikroebene der Menschen, die den Kampf ums Ganze wagten und verloren, oft tief traumatisch. [7] Das qualvolle Eingeständnis der Niederlage und die Trauer um das sinnlose Opfer der getöteten Revolutionäre sind nicht selten derart überwältigend, dass an die Stelle von Trauerarbeit die Unterdrückung des Leidens an der Niederlage tritt und „linke Melancholie [...] verborgen, verdrängt und sublimiert“ [8] wurde.


Die Verborgenheit, Begrabenheit der Melancholie unter den Trümmern gescheiterter Revolutionsversuche drückt sich etwa im Umgang mit ihr in der linken Kulturpolitik aus. Walter Benjamin etwa polemisierte gegen die „linke Melancholie“ in der Literatur engagierter linker Schriftsteller wie Erich Kästner und Ernst Bloch verlangte eine Differenzierung, „was melancholische Vergaffung oder aber, was substanzvolle Erinnerung im Leben“ ist. [9] Georg Lukács geißelte die „melancholische Verachtung der Wirklichkeit“. [10] Dem hegemonialen Diskurs der linken Intelligenzija gilt Melancholie als kleinbürgerliches Gefühl der Sehnsucht nach dem Früher, in dem alles besser war, während proletarischen Revolutionär*innen ihren Blick auf die strahlende Zukunft des Sozialismus zu richten hätten. Diese Gleichzeitigkeit von Verachtung der Melancholie und gleichzeitiger Präsenz der Schwermut im Leben von Revolutionär*innen, ergibt sich – so die hier vertretende These – aus der Moderneerfahrung der Revolutionär*innen, deren dialektischen Kristall aber die linke Melancholie bildet: Einerseits die Erlösung nicht mehr durch die Ankunft des Messias zu erwarten, sondern selber – in Marx’ Namen für die Aufständischen der Pariser Commune – zu “Himmelsstürmern“ [11] zu werden; andererseits durch die Reaktion, abermals aus dem Paradies vertrieben worden zu sein. Wenden wir uns daher der Begriffsgeschichte der Melancholie zu.



II. Melancholie als säkularisierte Sehnsucht

nach dem verlorenen Paradies

Der Begriff der Melancholie kann auf eine lange und komplexe Karriere in der westlichen Kulturgeschichte und damit verbunden auf ein Prisma unterschiedlichster Vorstellungen oder Bedeutungen über ihren Ausdruck und Wesen zurückblicken. [12] Die mit ihr verbundene geschichtliche Sprachverwirrung bildet dabei nur eine Seite der Medaille, denn auch die Erscheinungsformen, die mit dem Begriff der Melancholie verbunden wurden, bilden wahrlich ein weites Feld. Und dies bereits seit der antiken Vier-Sätze-Lehre - schließlich können die Erscheinungen verschiedenster Verständnisse der Melancholie Phänomene zwischen „entweder pathologischer Affektion oder aber konstitutionellen Beschaffenheiten” bezeichnen. [13] Es nimmt daher kein Wunder, dass sich die Melancholie auch nicht klar von verwandten Phänomenen abgrenzen lässt: Aecedia, Melancholie, unglückliches Bewusstsein und Depression lassen sich nicht verschiedenen Epochen entsprechend einer teleologischen Begriffsentwicklung zuordnen, sondern wurden und werden sowohl inhaltlich wie semantisch auf eine sich überschneidende Art und Weise verwendet. [14]


Am Anfang des Diskurses über die Melancholie steht die berühmte Frage Aristoteles: „Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?“ [15] Die von Aristoteles gezogene Linie zwischen Genialität und Melancholie initialisiert zwei Deutungen der Melancholie in der Antike und dem Mittelalter. Beiden ist die Symptomatik gemein: „Traurigkeit und Verzweiflung, da der Mensch ja außerstande ist, das Paradies zu vergessen.“ [16] Während jedoch die einen diese Sehnsucht nach dem Paradies in der Mimesis an die göttliche Allwissenheit in Genialität umarbeiten, bedeutet sie den anderen die „Krankheit zum Tode“ [17], wobei sicherlich auch der „geniale Melancholiker [...] auf einem schmalen Grad zwischen zwei Abgründen“ [18] wandelt.


In der Moderne und aufgrund der mit ihrem Aufkommen verbundenen „Entzauberung der Welt“ [19] verändert sich auch die Beziehung der Menschen zur Melancholie auf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist es nun nicht mehr die gestörte Beziehung zum Paradies, sondern gerade das „Auseinanderfallen des heilsgeschichtlichen Kompromisses“ zwischen Mythos und Geschichte, das „eine untröstliche Melancholie“ erzeugt [20]: Weil die Erlösung zur Befreiung säkularisiert wurde, die nicht mehr durch Messias oder Apokalypse in die Welt kommt, sondern Ergebnis des Handelns freier Menschen jenseits eines metaphysischen Gestells ist. Bleibt die Befreiung dann aus, kehrt die Melancholie über die verlorene Zukunft in die Menschen ein.


Mit dieser Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses über die Melancholie gehen drei Veränderungen ihres Begriffs einher: eine Politisierung der Melancholie, eine grundlegend andere geschichtsphilosophische Konzeption und die Entstehung der Trauerarbeit als produktives Gegenmittel gegen Melancholie und Quelle gelungener Subjektivierung der einzelnen Individuen.


Die moderne Vorstellung von Subjektivität als Modus einzelner, autonomer Individuen gründet dabei auf einer Veränderung im Umgang mit den Toten und der Trauer. In seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ hielt Hegel beispielsweise fest, dass die „Ehre und Aufbewahrung der Toten als erstes wichtiges Moment für das Existieren geistiger Individualität gelten.“ [21] Dieses erste Moment siedelt er dabei in der Begräbniskultur des alten Ägypten an – wobei hier weniger die Richtigkeit von Hegels These diskutiert werden soll, als dass diese eher als Resultat ihres eigenen geschichtlichen Ortes verstanden wird: Während andere Kulturen ihre Toten verbrannten, bauten die alten Ägypter Mausoleen, Pyramiden und andere Tempel, um ihre Toten zu begraben. Hiermit aber tritt erstmals in der Geschichte „der Gegensatz des Lebendigen und Toten mit Macht hervor, das Geistige beginnt sich vom Ungeistigen zu scheiden.“ [22] Da die Toten auf diese Weise „als ein Individuelles festgehalten und damit gegen die Vorstellung des Hinüberfließens in das Natürliche, in die allgemeine Verwebung, Verschwemmung, und Auflösung befestigt und aufbewahrt“ werden, bedeutet diese Form des Umgangs mit dem Tod die „Aufstehung des konkreten individuellen Geistes, die im Werden ist.“ [23] Erstmals in der Geschichte ist damit die „Einzelheit [...] das Prinzip der selbständigen Vorstellung des Geistigen, weil der Geist nur als Individuum, als Persönlichkeit zu existieren vermag.“ [24] Wie er weiterhin in der „Phänomenologie“ ausführt, bildet die Trauer um den einzelnen Verstorbenen auch die Grundlage des Gemeinwesens, der gesellschaftlichen Organisation, da nämlich „[d]er Tote“ für sich nur „leere Einzelheit, nur ein passives Sein für Anderes“ ist, die Familie aber „setzt das ihrige an die Stelle und vermählt den Verwandten dem Schoße der Erde“ und macht sie ihn ihn „hierdurch zum Genossen eines Gemeinwesens, welches vielmehr die Kräfte der einzelnen Stoffe und die niedrigen Lebendigkeiten, die gegen ihn frei werden und ihn zerstören wollen, überwältigt und gebunden hält.“ [25]


Für Hegel ist also die Entstehung von Subjektivität als Vermögen einer einzelnen, individuellen Persönlichkeit gleichursprünglich mit der Entstehung einer Trauerkultur, in der der Tote als Einzelner bewahrt und sich seine Präsenz als Abwesender durch einen Tempel oder einen Grab mit Grabstein als Zeichen seiner Präsenz im Leben versichert wird, wobei das Zeichen, das Symbol der Ort der Aufbewahrung des Toten wird. [26] Im Gegensatz zu Trauerarbeit wird Melancholie – als offene Wunde des Verlustes, reiner Schmerz, der keine Verarbeitung zulässt – nun als Ausweis individueller Schwäche verstanden, indem sie – weiterhin in Hegels Worten - „die Übel der Geschichte“ zum „furchtbarsten Gemälde erheb[t]“ und demnach meint, „es ist nichts daran zu ändern“, wodurch man selbstsüchtig einen Ort einnimmt, der „am ruhigen Ufer steht und von da aus sicher des fernen Anblicks der verworrenen Trümmermasse genießt.“ [27] In der Moderne wird die Melancholie also von einem theologischen mehr und mehr zu einem psychologisch-moralischen Problem und nicht zufällig finden sich daher die tiefsten und für das zeitgenössische Verständnis – an dem sich diese Arbeit freilich zu orientieren hat – einflussreichsten Begriffe der Melancholie in der psychoanalytischen Literatur. Am bekanntesten sicherlich Freuds Aufsatz über „Trauer und Melancholie“, der die gelungene Ablösung libidonöser Energie vom verlorenen Liebesobjekt Trauerarbeit, das Scheitern dieses Abzugs aber Melancholie nennt.


Die moderne Melancholie ist zweitens das Produkt einer Umwertung der Geschichtsphilosophie: An die Stelle der zyklischen Heilserwartung des Mittelalters tritt die Chronologie als einem unendlichen Fortschritt in der Verwirklichung der Freiheit individuierter Subjekte. Indem die Moderne auf die Enttäuschung der chiliastischen Heilserwartungen am Ausgang des Mittelalters noch mit der Trauerarbeit des bürgerlichen Subjekts die Melancholie zu bannen versuchte, unternahm sie den Versuch, die Utopie des verlorenen, aber unvergesslichen Paradieses im „natürlichen Fortschritt“ [28] der aufgeklärten bürgerlichen Subjekte zu einer vernünftigen Einrichtung des Gemeinwesens aufzubewahren und als produktives Verarbeiten des Verlustes in der Trauerarbeit zu überformen. Dieser Geschichtsoptimismus als säkularisierter Chiliasmus erwartete nicht mehr die Erlösung durch die Parusie, sondern die Befreiung der Menschen aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ [29] (Kant) durch das moralische Handeln der autonomen, bürgerlichen Subjekte. Diese aufklärerische Teleologie des Strebens nach Vollkommenheit und Fortschritt spiegelt sich auch im Geschichtsoptimismus des Marxismus der zweiten Internationale, wonach die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus diesen selbst aufheben würde, weshalb die Sozialdemokratie zwar eine „revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei“ [30] (Karl Kautsky) sein musste.


Was hat aber nun die Revolution mit Melancholie zu tun? Ihre Zuspitzung und ihren Scheitelpunkt findet die bürgerliche Geschichtsphilosophie in der Revolution: Die freie Tat der Unfreien verwirklicht die Freiheit als Überwindung der unfreien Vergangenheit – damit ist sie zugleich Fluchtpunkt als Höhepunkt des „natürlichen Fortschritts“ wie auch Bruch mit der Vorstellung eines chronologischen Voranschreitens der Geschichte. Die Revolution ist somit ihrem Begriff nach kein Teil einer Geschichtsphilosophie, sondern ihre Aufhebung. Insofern politisiert sich, drittens, die Melancholie auch in der Moderne. In und nach den politischen und kulturellen Umwälzungen der frühen Neuzeit erscheint sie als Resultat des „fehlgeschlagenen Versuch[s], ein starres System in Bewegung zu bringen“ [31]: So erscheint die Melancholie des Barock Walter Benjamin als Reaktion auf den „Ausfall der Eschatologie“ [32], nachdem die milleniaristischen Bewegungen der Wiedertäufer, dissidenten Kleriker*innen und revolutionären Bauern am Beginn der Frühen Neuzeit niedergeschlagen wurden. Nicht zufällig geschieht die Geburt der revolutionären Arbeiter*innenbewegung aus dem Geist dieser „unterschwelligen Tradition [des] Chiliasmus.“ [33] Während aber der revolutionäre Thermidor als „Furie des Verschwindens“ [34] (Hegel) die „Arbeit des Vergessens“ [35] (Mona Ozouf) betreibt, ist die Melancholie dabei die unheimliche Wiedergängerin der gestorbenen Hoffnung auf eine besser Zukunft im Moment, als sich der Optimismus des unendlichen Progresses zur Freiheit nicht verwirklicht hat. Der Fortschrittsoptimismus der Vergangenheit stellt sich nun als ein „Friedhof nicht gehaltener Versprechen“ [36] (Paul Riceur) dar. Das Scheitern der Revolution als Auseinanderbrechen des Geschichtsoptimismus bewirkt auch ein Zusammenbrechen der Krypta, die die Melancholie um das verlorene Paradies in ihrem Inneren gebannt hatte. Die Geschichte stellt sich nicht mehr dar als kontinuierlicher Strom, der auf die erfolgreiche Revolution zuläuft, sondern als Trümmerhaufen, den die verlorenen Kämpfe hinterlassen haben und aus welchem kein Licht der Zukunft mehr scheint.


Melancholie in der Moderne ist die dreifache Erfahrung des Scheiterns: Scheitern gelungener Subjektivierung in Form von erfolgreicher Verarbeitung von Bindungserfahrung und Bindungsverlust; Scheitern der politischen Emanzipation der so geschaffenen autonomen Subjekte, und drittens: Scheitern der Fortschrittsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Geschichtsoptimismus, dessen Akteure die emanzipierten Subjekte hätten sein sollen. Und dort, wo es ums Ganze geht, im revolutionären Kampf für das ganz Andere, das Paradies auf Erden oder den Sturm auf den Himmel, sind die Erfahrungen des Scheiterns besonders schmerzhaft und traumatisch: Wenn es den Revolutionär*innen darum ging, die Ideologie des „natürlichen Fortschritts“ als „Geschichte des Leidens“ (Adorno) aufzusprengen; wenn es darum geht, Autonomie nicht nur als Implementierung des stummen Zwangs des Kapitalismus als Selbstbeherrschung, sondern als die Erfahrung der Freude der gegenseitigen Verbindung und des „bacchantischen Taumels“ zu leben, und das Leben für das Leben zu geben, dann lugt aus den Trümmern die verleugnete Eschatologie, das uneingelöste Heilsversprechen des revolutionären Wiedertäufertums, wie auch die verlorene Zukunft aller sinnlosen Opfer der Revolutionsversuche hervor. Die Hoffnung auf die Revolution ist dabei deswegen nicht – wie etwa Karl Löwith, Eric Voegelin oder die schreckliche Hannah Arendt meinen – Überrest unbewältiger Irrationalität, sondern vielmehr Fermente der verlorenen Zukünfte der Vergangenheit als unabgegoltene, nicht ergriffene Möglichkeiten der Freiheit. Und die Revolutionäre als ihre Trägerschaft zeigen sich als Grenzgänger der Moderne. Doch angesichts der andauernden Niederlage kann die Enttäuschung der chiliastischen Hoffnung nicht betrauert oder bewältigt werden, denn, so Horkheimers Wort: „Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen worden.“ [37]



Falls das Ende zu frustrierend ist hab ich zur Motivation noch ein recht bekanntes Gedicht von Brecht mitgebracht, ich würde das mal noch fix zum Abschluss vorlesen:


Der Schneider von Ulm – Legende aus der Zeit des Bauernkriegs (in "Svendborger Gedichte 1939")


(Ulm 1592)


Bischof, ich kann fliegen

Sagte der Schneider zum Bischof.

Paß auf, wie ich’s mach!

Und der stieg mit so ’nen Dingen

Die aussahn wie Schwingen

Auf das große, große Kirchendach.

Der Bischof ging weiter.

Das sind lauter so Lügen

Der Mensch ist kein Vogel

Es wird nie ein Mensch fliegen

Sagte der Bischof vom Schneider.


Der Schneider ist verschieden

Sagten die Leute dem Bischof.

Es war eine Hatz.

Seine Flügel sind zerspellet

Und er liegt zerschellet

Auf dem harten, harten Kirchenplatz.

Die Glocken sollen läuten

Es waren nichts als Lügen

Der Mensch ist kein Vogel

Es wird nie ein Mensch fliegen

Sagte der Bischof den Leuten




Referenzen

1 Bucharin, Nikolai: Letzte Worte des Angeklagten Bucharin. [1938]. In: Deborin, Abram: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. Frankfurt/Main 1974. S.265ff. S.278.

2 Die Denunziation der Melancholie als bürgerlich und damit konterrevolutionär war Konsens etwa in der sowjetischen Literaturpolitik: „So beschloß etwa der erste Gesamtkongress der Sowjetschriftsteller, daß es Ziel der Literatur sei, auf die Beseitigung der die Melancholie verursachenden hinzuwirken. Die Melancholie gilt als ein deutliches Merkmal bürgerlicher Dekadenz.“ (Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn undMelancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/Main 1990. S.14)

3 Adamczak, Bini: Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp Verlag 2017

4 Vgl. bspw. Peitsch, Helmut: Politische Melancholie. Tropen des Marxismus um 1968. In: Zeitschrift für Ideengeschichte X 4/Winter 2016. S.28 – 44; Pilzweger-Steiner, Stefanie: Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution: eine Emotionsgeschichte der bundesdeutschen 68er-Bewegung. Bielefeld 2015

5 Siehe hierzu bspw: Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann. Frankfurt/Main 2004. Brown, Weny: Resisting Left Melancholia. In: Eng, David L./Kazanijan, David (Hrsg.).: Loss. The politics of mourning. Berkley 2003. S.458 – 465; Dean, Jodi: Communist Desire. In: Žižek, Slavoj (Hrsg.): The Idea of Communism. Band II. London 2013. S.77 – 102; Fisher, Mark: Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft. Berlin 2015. S.35 – 39.

6 Traverso, Enzo: Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Aus dem Französischen von Elfriede Müller. Münster 2019. S.11.

7 Lucas, Erhard: Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung. Berlin 2020. Die Metapher des Himmelssturms durch die Revolution, die ein theologischen Diskurs aufruft, der im folgenden bedeutsam wird, stammt ursprünglich von Marx über die Kommunarden des aufständischen Paris 1871: Marx an Kugelmann vom 12.April 1871. In: Marx-Engels-Werke 33. S.206.

8 Traverso: Linke Melancholie. S.12.

9 Bloch, Ernst: Spuren. Werkausgabe Band I. Frankfurt/Main 1985. S.88; vgl. auch Benjamin, Walter: Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch. In: ders.: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften Band III. Herausgegeben von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/Main 1991. S.279 – 283. Selbst seine geschichtswissenschaftliche Biographie über Thomas Münzer führt Bloch mit den Wirten ein: „So blicken wir auch hier keineswegs zurück.“ (Bloch, Ernst: Thomas Münzer als Theologie der Revolution. Gesamtausgabe Band 2. Frankfurt/Main 1969. S.9.) Siehe zudem Fussnote 3.

10 Lukács, Georg: Wider dem mißverstandenen Realismus. Hamburg 1958. S.19.

11 Marx an Kugelmann vom 12.April 1871. In: Marx-Engels-Werke 33. S.206.

12 Zum Überblick über die Kulturgeschichte der Melancholie siehe insb. Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/Main 1990 und Földényi, Lászlo F.: Melancholie. Aus dem Ungarischen von Nora Tahy. Berlin 2020.

13 Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/Main 1990. S.51.

14 Harré, Rom/Finlay-Jones, Robert: Emotion talk across time. In: Harré, Rom (Hrsg.): The social construction of emotion. 1986. S.220 – 233.

15 Aristoteles, Problem XXX1. Zit. Nach: Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/Main 1990. S.59..

16 Földényi, Lászlo F.: Melancholie. Aus dem Ungarischen von Nora Tahy. Berlin 2020. S.101.

17 Kierkegaard, Søren: Krankheit zum Tode. In: ders.: Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst.

18 Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/Main 1990. S.80. Indem die „Traurigkeit“ auch aus einer „Sehnsucht nach der Vereinigung mit Gott“ hervorgeht, erklärt sich der „melancholische[...] Selbstmorddrange[...].“ (ebd. S.181)

19 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf (1919). In: ders.: Schriften 1894 – 1922. Ausgewählt und herausgegeben von Dirk Kaesler. Stuttgart 2002. S.474 – 513. S.488.

20 Etzold, Jörn: Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord. Zürich/Berlin 2006. S.39.

21 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke 14. Frankfurt/Main 1986. S.291.

22 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke 14. Frankfurt/Main 1986. S.291.

23 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke 14. Frankfurt/Main 1986. S.291.

24 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II. Werke 14. Frankfurt/Main 1986. S.291.

25 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke Band 3. Frankfurt/Main 1986. S.335/336

26 Vgl. Etzold, Jörn: Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord. Zürich/Berlin 2006. S.33.

27 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich: Vorlesung über die Philosophie der Geschichte. Werke 12. Frankfurt/Main 1986. S.34 – 35.

28 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. B S.338.

29 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Werkausgabe XI. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/Main 1977. S.53 - 61. S.53.

30 Kautsky, Karl: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution. (1909). Kapitel 5.

31 Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt/Main 1998. S.179.

32 Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I, 1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1991. S.203 – 430. S.259. Vgl. für eine ähnliche Deutung auch: Debord, Guy: La Société du Spectacle. S.107. §138.

33 Thomson, Edward P.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Erster Band. Frankfurt/Main 1987. S.52. Ähnlich: Hobsbawm: Primitive Rebels. Studies in Archaic Forms of Social Movements in the 19th and 20th Century. Manchester 1959. S.60 – 61, 64. Gerd Koenen weist – die aktuelle Forschungslage zusammenfassend – in seiner Weltgeschichte des Kommunismus darauf hin, dass die spätmittelalterlichen Bauernaufstände und millenaristische Bewegungen nicht als proletarische Revolutionsversuche verstanden werden dürfen und dass ihre Führer wie Thomas Münzer eine spirituelle Erneuerung und keine säkulare protokommunistische Ordnung errichten wollten – damit hat er zwar recht, in diesem Zusammenhang aber ist es unerheblich, weil sie in der kommunistischen Geschichtspolitik etwa in den Darstellungen von Friedrich Engels, Karl Kautsky und Ernst Bloch und wohl auch Thomson und Hobsbawm zu solchen gemacht wurden: vgl. Koenen, Gerd: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. München 2017. S.102 – 109.

34 Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke 3. Frankfurt/Main 1986. S.436. 35 Ozouf, Mona: Thermidor, ou le travail de L’oubli. In: dies.: L’École de la Frqnce. Essais sur la Révolution, L’utopie et l’enseignement. Paris 1984. S.S.91 – 108. Übersetzung durch den Verfasser.

36 Riceur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Göttingen 1998. S.67, 128.

37 Horkheimer, Max an Benjamin, Walter vom 16.03.1937 In: Benjamin Gesammelte Schriften II. S.1332.



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