Juli 2022.
Vielleicht mehr als jeder andere Intellektuelle des zeitgenössischen linken Spektrums hat Mark Fisher eine eindrucksvolle Diagnose und gleichzeitig Perspektive für die linke Hegemonie geliefert, und das in wenigen Sätzen:
"At the moment, our desire is nameless — but it is real. Our desire is for the future — for an escape from the impasses of the flatlands of capital’s endless repetitions — and it comes from the future — from the very future in which new perceptions, desires, cognitions are once again possible. As yet, we can grasp this future only in glimmers. But it is for us to construct this future, even as — at another level — it is already constructing us: a new kind of collective agent, a new possibility of speaking in the first person plural. At some point in this process, the name for our new desire will appear and we will recognise it."
(M. Fisher, K-Punk: 587)
Diese Worte, die man in der umfassenden Sammlung von Blog-Beiträgen namens K-Punk finden kann, wenden sich ans Herz, und dies nicht obwohl, sondern gerade weil das Herz im kapitalistischen Realismus verwüstet ist. Ein Stück Poesie - wie in jeder Poesie erschließt man den Sinn der Worte nicht durch einen Akt der Vernunft, sondern man erahnt ihn. Und nun, selbst um den Preis, dadurch der Prosa der Welt zu begegnen (was hier durchaus der Fall sein wird), muss man, zwecks der vorliegenden Argumentation, Fishers Gedanken zerlegen und theoretisch genauer verorten.
Die Grundthese dieses Beitrags folgt den Spuren des britischen Kulturwissenschaftlers in dem Bewusstsein, den Finger in eine offene Wunde gelegt zu haben. Einerseits gehe ich von Fishers Diagnose aus, die besagt, dass unter den gegenwärtigen Umständen, in denen wir leben und sprechen, unser Begehren namenlos ist; dass das Begehren nach einer Alternative zum Kapitalismus, in der andere Bedürfnisse, andere Arten des Verstehens und Fühlens möglich wären, unartikuliert und bisher unerkannt bleibt. Die Einsicht, die Fisher in dem obigen Zitat präsentiert, mag aufgrund ihrer Abstraktheit nicht jedem genügen, ist aber dennoch eine gute Gelegenheit, die Frage nach linker Politik und ihrer (ausbleibenden) Hegemonie zu stellen.
Hegemonie (in Anlehnung an Antonio Gramsci) gehört denjenigen, denen es gelingt, die Vielfalt der Interessen zu synthetisieren und sie auf der Grundlage eines konstruierten Imaginären (eines allgemeinen Diskurses) zu mobilisieren. Wenn wir an diesem Grundsatz festhalten, können wir das Problem der linken Hegemonie angehen. Die Frage, die sich stellt, ist: Warum fällt es der Linken heute schwer, hegemoniale Kämpfe zu organisieren, d.h. Kämpfe, die auf einem Konsens der Vielen basieren? Gewiss, in den letzten Jahren haben wir sporadische Ausbrüche von zivilem Ungehorsam und contentious politics in Form der Indignados, Podemos und der verschiedenen Occupies erlebt, doch diese Bewegungen sind so rasch erloschen, wie sie entstanden sind. Meiner Analyse zufolge lässt sich das Problem der linken Hegemonie in zwei Achsen unterteilen, die zwei Blockaden entsprechen: einerseits einer Äquivalenzblockade und andererseits einer Deutungsblockade. Diese beiden Blockaden dürfen nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Ihr Unterschied ist rein methodischer Natur, da sie in der Praxis oft ineinander übergehen.
Beginnen wir mit der Äquivalenzblockade. Die Äquivalenzblockade bezieht sich auf den Umstand, dass es dem linken Lager nicht gelingt, eine Vielzahl von Interessen in eine kämpferische Einheit zu integrieren, oder, mit Ernesto Laclau und Chantal Muffe ausgedrückt, hegemonial verschiedene Diskurse in einer Äquivalenzkette zu artikulieren. Sobald man eine große, übergeordnete Erzählung hat, mit welcher sich die Ansprüche verschiedener Interessenlage und Subjektpositionen verknüpfen lassen, ist auch die Möglichkeit geliefert, die verschieden Formen der Ungleichheit als gleichermaßen illegitim hinzustellen, also als Momente allgemeiner Unterdrückung. Dadurch werden diese verschiedenen Formen anderen äquivalent gemacht und so verkettet. Somit ist auch die Botschaft von Laclau und Muffe für die Linke Politik unmissverständlich ausgesprochen: Hegemonial handeln würde bedeuten, Kämpfe zu verbinden, Allianzen zu schaffen. Unterschiedliche Positionen sind nicht "notwendig" und unmittelbar miteinander verknüpft, vielmehr ist die Aufgabe politischen (linken) Handelns, die Verkettung unterschiedlicher Kämpfe praktisch herzustellen.
Die Realität des politischen Handelns der Linken mutet allerdings ganz anders an: Sie versagen gerade dort, wo eine Strategie der Zurücksetzung der partikulären Agenden, traditionelle Selbstzuordnungen, Nostalgien und anstatt dessen eine fokussierte Bündelung der Stärke durch transversale Allianz so wichtig wären. Ich möchte das Problem am Beispiel der Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen verdeutlichen. Natürlich gibt es in dieser Frage Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen innerhalb des linken Spektrums (was einmal mehr die Zersplitterung zeigt, unter der die Linke leidet). Was das BGE betrifft, so ist es aus analytischer Sicht sehr interessant, die Haltung eines der wichtigsten Akteure für linke Politik in den Blick zu nehmen: Die Gewerkschaften. Ausgerechnet die Gewerkschaften: In Deutschland ver.di, IGMetall und Konsorten lehnen die Einführung des BGE ab. In einem Arbeitspapier der IG Metall aus dem Jahr 2018 wird vor dem BGE als möglichem Spaltungsmotor der Gesellschaft gewarnt. Dort heißt es: "Statt die Spaltung der Menschen in Arbeitsplatzbesitzer und Bezieher von Grundeinkommen als unvermeidlich hinzunehmen, muss das Ziel sein: Alle müssen die Chance haben, erwerbstätig zu sein – aber zu guten Bedingungen“. Als ob die Gesellschaft nicht schon gespalten wäre, konstruieren die Gewerkschaften eine Apologie der Lohnarbeit - wohlgemerkt: Lohnarbeit als Chance und nicht als sozialer Zwang - unter "fairen Bedingungen". Was für eine Antinomie! Lohnarbeit (wenn man marxistisch bleiben will) ist per Definition unfair. Offensichtlich verteidigen die Gewerkschaften durch ihre Ablehnung ihre Legitimität und Macht, welche durch die Einführung einer finanziellen Grundsicherung für alle untergraben würden; sie verteidigen die Privilegien der Facharbeiter:innen unter normalen Arbeitsbedingungen. Und schließlich verteidigen sie die Lohnarbeitsgesellschaft, deren Fortbestehen die Lebensbedingung des Kapitalismus ist.
Ihre politische Ablehnung der Grundsicherung ohne Wenn und Aber schadet (wenn nicht verhindert) vor allem dem Bündnis mit den Unterschichten, mit den Arbeitslosen, mit Menschen mit alternativen Lebensentwürfen, mit chronisch Kranken, mit den Prekären sowieso. Gerade bei den Prekären treffen unterschiedliche, ja gegensätzliche Welten aufeinander: Prekäre Hände treffen auf prekäre Köpfe, prekäre Frauen auf prekäre Männer; wenn dann noch das Verhältnis von In- und Ausland ins Spiel kommt, wird die Zahl der möglichen Prekaritätskonstellationen wirklich unüberschaubar. Analytisch gesehen zeugt diese Haltung der Gewerkschaften von jenem "Korporatismus", der nach Gramsci in einer Hegemonie bereits überwunden werden muss.
Und jetzt kommen wir zur zweiten Blockade: Der Deutungsblockade. Dieses Phänomen tritt in zweierlei Formen auf. Einerseits ist es unverkennbar, dass die linke Kritik eine wichtige Funktion für das Kapital darstellt. Die Idee, dass die Geschichte von Kritik nicht von der Geschichte vom Kapitalismus zu trennen sei, wurde von den zwei Arbeitssoziologen Luc Boltanski und Eve Chiappello herausarbeitet. Ihre fundamentale Analyse des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und seiner Kritik ist nicht mehr wegzudenken. Im Wesentlichen haben Boltanski und Chiappello in Ihrem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ am Beispiel der Sozialkritik und vor allem der Künstlerkritik der 60er und 70er Jahren gezeigt, wie das im Schoß der neuen sozialen Bewegungen entstandene Begehren nach Autonomie, Fexibilität und Selbstverwicklichung vom Kapitalismus absorbiert und in der neuen Unternehmungsorganisation integriert worden ist. Durch die Klimakrise und die Klimabewegung könnte man schon heute eine neue Phase der Erneuerung des Kapitalismus vermuten. Der Kapitalismus verändert seine Haut, er wird grüner. Die Klimabewegung liefert die normative Grundlage dafür.
Zentral ist hier der Punkt, dass Kapitalismus ein Allesfresser ist; er vereinnahmt alles, seine Affirmation bis hin zu seiner Negation. Das ist das Beeindruckende an diesem Gesellschaftsform und vielleicht Grund ihrer Langlebigkeit, dass sie dem Gott von Nikolaus von Kues ähnlich ist: Eine „Coincidentia Oppositorum“ (Zusammenfallen der Gegensätze).
Die Einsicht, dass der Kapitalismus diese Fähigkeit besitzt, nicht nur Natur, Ressourcen, menschliche Arbeit vampirhaft einzusaugen, sondern auch das Sagbare, ist für mich insofern relevant, als es uns erlaubt, das Problem der Deutungsblockade zu verstehen. Es ist unglaublich schwierig ein Vokabular einzusetzen, das sich inhaltlich scharf von der herrschenden symbolischen Ordnung trennt. „Freiheit!“ bedeutet alles und gerade deshalb überhaupt nichts; „Soziale Verantwortung“ wird als Formel von Konzernen propagiert, die das CSR (Corporate Social Responsability)-Modell in ihren Strukturen etablieren. Als besonders eindrucksvolles Bespiel der Inflationierung eines Begriffs, der ursprünglich links war, können wir (wie kann man ihn vergessen!) an den Begriff „Solidarität“ denken. Dieser wurde während der ersten Lockdowns der Corona-Pandemie von Akteuren aller Couleur verwendet. Schaudernd stellt man aber fest, dass „Solidarität“ nicht nur von der neoliberalen Politik großzügig verwendet wurde, sondern dass der Begriff auch zahlreiche Male in den Programmen der NPD und AfD auftaucht. Während die Neuen Rechten eine grauenvolle Solidaritätsökonomie skizzieren, muss das linke Lager einen der verheerendsten Verluste in seinem symbolischen Arsenal erleiden.
Die kapitalistische Übernahme aller positiven Signifikanten geht mit einer Verkappung des Sagbaren einher. Dies drückt sich in der Unmöglichkeit aus, das Unbehagen am Kapitalismus zu deuten. In der erschöpften “postkapitalistischen” Gesellschaft wird dieses Unbehagen mit aller Gewalt mystifiziert. Schließlich gibt es Milliardäre, die großzügig für die Dritte Welt spenden; NGOs führen humanitäre Projekte durch; alle Probleme werden öffentlich diskutiert und jede*r kann alles kritisieren. Man kann nachhaltig leben, indem man die Kaffeepackung mit dem fröhlichen peruanischen Gesicht darauf kauft, das auf die soziale und ökologische Nachhaltigkeit hinweist, mit der der Kaffee produziert wurde, oder indem man mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, anstatt mit dem Auto. Überall werden Mystifikationen gebraucht, um das Unerträgliche erträglicher zu machen, um jeder vernichtenden Kritik unangemessene Überempfindlichkeit vorzuwerfen, und vor allem: um weiterzumachen wie bisher. Hegemonie braucht aber Signifikanten, um die Welt sowohl positiv als auch negativ zu deuten. Und weil diese Signifikanten außer Reichweite sind, ist linke Politik unter den derzeitigen Bedingungen nicht in der Lage, hegemonial zu handeln.
Der Wunsch nach einer deutlichen inhaltlichen Alternative, einem neuen Sinngenerator ist bei Denker*innen aus linken Reihen durchaus präsent. Was noch sehr bescheiden und in leisen Tönen ausgedruckt wird, ist genau die Sehnsucht nach einer - ja wagen wir es doch zu sagen - einer großen Erzählung. Es ist aber so, dass sich noch große Teile der linken Intelligenzija glücklich in ihrem postmodernistischen Traum tummeln. Das Ende der großen Erzählungen (die Formulierung hat der Vordenker der Postmoderne geprägt: Jean-François Lyotard) ist dabei ein zweischneidiges Schwert, ein widersprüchliches Prinzip, das es zu dialektisieren gilt. Einerseits war es der letzte Abschied von restlichen totalisierenden Weltvorstellungen und Bedingung für eine Freisetzung, eine Ungebundenheit und Nomadität aller Werte, Symbole und Subjekte; das letzte (rein geistige) Schachmatt jeglicher Hierarchie. Andererseits stellt man die ungewollten Konsequenzen fest. Nomadität muss man sich zuerst leisten können. Was an der Stelle von Historizität und kohärente Projekte tritt, ist Orientierungslosigkeit, die Entstehung eines psychosozialen Typus, der von Zynismus, Apathie und neurotischer Spaltung gekennzeichnet ist; ein soziales Subjekt, das eine aufgezwungene Ataraxie permanent übt bzw. üben muss und welches in seiner Freiheit und Flexibilität ertrinkt.
Der Abschied von den großen Erzählungen findet seine Entsprechung in der bis heute schwer lastenden Verkündung Fukuyamas vom "Ende der Geschichte". Diese Verkündung fungiert als rhetorisches Mittel zur Entpolitisierung und Alternativlosigkeit und unterstützt semantisch das Spiel des Kapitalismus. Die Geschichte endet nie, sie wurde politisch stillgelegt, und die Möglichkeit großer Erzählungen ist nicht verflogen, sondern wurde durch und durch verleugnet, damit bzw. weil sich eine einzige monologische und verabsolutierende Erzählung, die des Kapitalismus, durchsetzen konnte.
Die Linken - und damit sind Parteien, Bündnisse, Institutionen, autonome Gruppen aller Art gemeint - brauchen mehr denn je eine große Erzählung, die die Unterschiede nicht aufhebt, sondern diese kohärent zu einer Kette verbindet, zu einer antisynthetischen Synthese der Kämpfe für das Bessere. Diese Erzählung, wie Fisher in seinem Zitat von oben zu bedenken gibt, hat man zurzeit nicht: „At the moment, our desire is nameless“. Die Stimme, das Feld des Sagbaren wird der linken Vorstellungskraft Stück für Stück verkappt; linke Codes werden allmählich geraubt und uns fehlt eine wahrhafte Sprache für unsere Unfreiheit. Vor diesem Hintergrund stellt Fisher einen „unbescheidenen“, und eben deshalb bewundernswerten, Anspruch: “the left needs to produce its own machinery of desire” (ibd.). Gegenüber dem Kapitalismus und seinem libidinal engineering – dabei ist der Einfluss von Gilles Deleuze und Felix Guattari unmissverständlich, denn Kapitalismus ist in den Augen der beiden eine gigantische Maschine der Dekodierung und Rekodierung von Begehren - sollte linke Politik mit einer eigenen „subversiven Begehrensmotorik“ antreten, welche eben Begehren einfängt, interpretiert, produziert, formiert, und eben auch: benennt. Zu diesem Zweck ist es unabdingbar, dass die Linke genügend Erfindungsvermögen aufbringt für neue Konzepte, neue Worte, die die Welt neu benennen und transformieren.
Die Linke muss ihr eigenes Imaginäres, ihr eigenes Narrativ schaffen, das die Deutungs- und die Äquivalenzblockade überwindet, und dies selbst um den Preis, dafür auf das alte Koordinatensystem Kommunismus verzichten zu müssen. Denn, wie Fisher zu Recht hinweist: Die semantische Kraft des Kommunismus ist aufgrund der historischen Ereignisse längst beschädigt. Ich glaube nicht, dass der neue Name für unser Begehren einfach auf uns zukommen wird und wir ihn dann plötzlich erkennen werden. Im Gegenteil, das Projekt einer neuen Erzählung – samt der Erfindung neuer Begriffe und Namen - muss voluntaristisch angelegt werden. Voluntaristisch deshalb, da der Kapitalismus sich neu organisiert und weiter an Boden gewinnt, während Kritik desorientiert ist und in ihrer Melancholie verharrt.
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