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Utopia & Lost Futures: Building Rat Park

Oktober 2022. Vortragsnotizen von Alfredo Linguini


“Rat Park” war ein Konzept, das die Versuchsanordnung und Ergebnisse von Experimenten zu Suchtverhalten in den 1970er Jahren radikal in Frage stellte.


Das damals vorherrschende Labor-Setting bei solchen Experimenten bestand aus kleinen Metall-Käfigen, in denen die Versuchstiere (meistens Ratten) jeweils einzeln gehalten wurden. Dabei gab es dann sowohl Wasser mit Morphinen (Bestandteil von Drogen wie Heroin) als auch Wasser ohne Morphine. In diesem Setting entwickelte eine signifikante Anzahl von Ratten eine Morphin-Sucht mit tödlichem Ausgang für zahlreiche Tiere, was als Argument für die Kriminalisierung von Rauschmitteln verwendet wurde. Offensichtlich ist dieses Vorgehen bereits an sich skandalös: Wer tötet Tiere, um die Repression von Menschen zu rechtfertigen?


Der Psychologe Bruce K. Alexander wiederholte diese Experimente an der @Simon Fraser University in Canada, wobei er die Ratten nicht einzeln in trostlose Käfige, sondern in größeren Gruppen in geräumigen Käfigen unterbrachte, mit mehreren Spiel- und Rückzugsgelegenheiten. In diesem Setting konnte kein regelmäßiges Sucht- und Selbstgefährdungsverhalten festgestellt werden, obwohl die Morphin-Quelle nach wie vor zu Verfügung stand (und gelegentlich auch genutzt wurde).


(Wie) Kann „Rat Park“ ein Leitstern bei Kämpfen für die Gestaltung von Räumen sein, in denen die allgemeine Erfahrung subjektiv besser ist als das High von Drogen - und wie könnten wir das Bauen von rat parks angehen?



01 Entfremdung & Subjektivität


Wenn wir diesem Gedankenexperiment folgen wollen, müssen wir uns zunächst damit auseinandersetzen, dass wir scheinbar ein Problem haben. Wir leben (noch) nicht in Rat Park. Aus der Perspektive dieser Analogie leben wir eher wie konventionelle Laborratten, einzeln, zu zweit oder vielleicht zu dritt oder viert, in Wohngemeinschaften oder familiären Konstellationen. Und unser Alltag besteht wohl in den seltensten Fällen darin, zwischen mehreren Spiel- und Rückzugsgelegenheiten wählen zu können. Die meiste Zeit, die wir wach sind, verbringen wir mit Arbeit (oder der Vorbereitung darauf, in der Schule oder in weiteren Ausbildungsstätten). Und sind dabei letztlich auf uns allein gestellt.


Die Bedingungen unseres Alltags können wir nur sehr beschränkt selber gestalten. Wir leben in Verhältnissen, die sich immer wieder unserer aktiven Gestaltung entziehen. Gleichzeitig erkennen wir, dass etwas nicht stimmt, und wollen die Welt verändern. Wir könnten uns als entfremdete Subjekte beschreiben: Als Subjekte, weil wir etwas wollen und von unseren eigenen Regungen ausgehen, und als entfremdet, weil wir uns in einer Welt wiederfinden, die uns immer wieder fremd erscheint - und wir selbst darin ebenso.

Diese Begriffe sind wesentliche Bestandteile gesellschafts- und kapitalismuskritischer Theorien. Vielleicht hilft uns eine Annäherung an diese Theorietraditionen bei unserer Suche nach Möglichkeiten zu einem Umbau dieses Alltags.

Karl Marx beispielsweise postuliert bereits in den Auszügen aus James Mills Buch ‚Éléments d’économie politique‘ von 1844, dass die warenproduzierende Gesellschaft sich selbst auf elementare Weise fremd sei: „[…] [W]eil das gesellschaftliche Wesen nur als sein Gegenteil, in der Form der Entfremdung zum Dasein kommt“ (Marx 1985, S. 455 (10)). Die kapitalistische Gesellschaft ist ihrem Wesen nach entfremdet: Eine Erkenntnis, die Marx in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten genauer als Dynamik des kapitalistischen Produktionsprozesses fasst, der schließlich auch die Selbstentfremdung der Individuen und eine Entfremdung vom Gattungswesen mit sich bringe (vgl. Marx 1982, S. 239). Der Entfremdungsbegriff wirft allerdings auch von Anfang an Fragen auf. Wer entfremdet sich wie genau von was genau und warum? Und warum ist das schlecht bzw. kritikwürdig?


Eine Entfremdungsdiagnose braucht immer gesellschaftliche Bezugspunkte, von denen sie ausgehen kann, und gerade wenn sie den Anspruch einer wissenschaftlichen Kategorie entwickelt, darf „Entfremdung“ nicht einfach nur eine Variable nach dem Bauchgefühl der jeweiligen Theoretiker*in sein, sondern muss letztlich eine gesellschaftliche Dynamik auf den Begriff bringen. So weit reicht der Begriff der Entfremdung. Werden die hier angedeuteten Fragen nicht übergangen, sondern ernst genommen und beantwortet, ist eine Theorie der Entfremdung eine kritische Theorie (falscher) gesellschaftlicher Verhältnisse - und gesellschaftliche Verhältnisse werden mit kritischer Theorie als entfremdet und dadurch als falsch erkannt.


Die Marx’sche Gesellschaftskritik beschreibt Entfremdungstendenzen, die in der gesamten kapitalistischen Gesellschaft bestehen, auch und gerade entgegen der Einschätzung der Subjekte. Dabei handelt es sich nicht nur um einen gesellschaftlichen, sondern auch um einen historischen Geltungsanspruch, den diese Kritik beinhaltet, wenn sie insgesamt von einer Entfremdung vom Gattungswesen - also von einer Menschheit, die ihr Potential zur Menschlichkeit voll entfalten würde - spricht.


Warum aber machen die Menschen sich die Welt nicht einfach so, wie es ihnen gefällt? Warum wissen sie scheinbar oft genug nicht einmal, wo dazu anfangen und wo aufhören, noch bevor solche Versuche womöglich scheitern? Diese Fragen müssen wir uns stellen, um uns nicht all zu naiv an den Bau von Rat Park zu machen. Freiheit und Unfreiheit der Subjekte im Kapitalismus scheint schwer voneinander zu trennen zu sein.

Holen wir etwas aus: Die Frage nach der (Un-)Freiheit des subjektiven Willens und der Möglichkeit der Subjekte, diese Unfreiheit (und damit sich selbst) zu erkennen, führt zur gesellschaftlichen Bedingtheit von Subjektivität überhaupt. Das ist eine Erkenntnis von Theodor W. Adorno, ein weiterer marxistischer Theoretiker, in seinen Ausführungen Zu Subjekt und Objekt. Er verortet das positive Moment der verkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse darin, „[…] dass die vorgängige Gesellschaft sich und ihre Mitglieder am Leben hält. Das besondere Individuum verdankt dem Allgemeinen die Möglichkeit seiner Existenz; dafür zeugt Denken, seinerseits ein allgemeines, insofern gesellschaftliches Verhältnis“ (1977, S. 746). Genauso wie ihr Denken ist auch der Wille der Individuen gesellschaftlich bedingt, da sich auch im Willen der Einzelnen ihr Bezug zum allgemeinen Moment der Gesellschaft niederschlägt.


Subjektivität ist also in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen verankert, die die Subjekte mehr oder weniger frei machen. Herbert Marcuse, ein weiterer marxistischer Philosoph des 20. Jahrhunderts, bezieht sich in Der eindimensionale Mensch auf die „Freiheit von Mangel“ als „die konkrete Substanz aller Freiheit“ (Marcuse 1998, S. 21). Da, wo es an nichts mangelt, wird die Frage nach Freiheit erst relevant, sonst geht es ja primär um die Beseitigung des Mangels und die Befriedigung von Bedürfnissen. Und die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse hängt maßgeblich an gesellschaftlicher Koordinierung, ganz besonders in industriell organisierten Volkswirtschaften. Marcuse geht aber weiter und hat auch einen hot take zum Ursprung menschlicher Bedürfnisse:


„Die Intensität, die Befriedigung und selbst der Charakter menschlicher Bedürfnisse, die über das biologische Niveau hinausgehen, sind stets im voraus festgelegt gewesen. Ob die Möglichkeit, etwas zu tun oder zu lassen, zu genießen oder zu zerstören, zu besitzen oder zurückzuweisen als ein Bedürfnis erfaßt wird oder nicht, hängt davon ab, ob sie für die herrschenden gesamtgesellschaftlichen Institutionen und Interessen als wünschenswert und notwendig angesehen werden kann oder nicht. In diesem Sinne sind menschliche Bedürfnisse historische Bedürfnisse, und in dem Maße, wie die Gesellschaft die repressive Entwicklung des Individuums erfordert, unterliegen dessen Bedürfnisse selbst und ihr Verlangen, befriedigt zu werden, kritischen Maßstäben, die sich über sie hinwegsetzen.“ (Marcuse 1998, S. 24)


Wenn Mangel die negative Substanz der Freiheit ist, kann der Zustand der erfüllten Bedürfnisse als positive Substanz von Freiheit betrachtet werden. Diesen Bedürfnissen schreibt Marcuse dann tatsächlich ein „biologisches Niveau“ zu, so etwas wie eine natürliche Basis der Bedürftigkeit des Menschen. Doch ist es gerade nicht das biologische, sondern das gesellschaftliche In-der-Welt sein, auf das sich Marcuse in seiner Argumentation stützt: Als objektiver Referenzpunkt für seine Entfremdungstheorie fungieren herrschende gesamtgesellschaftliche Institutionen und Interessen, von denen die Verwirklichung der menschlichen Bedürfnisse abhängt.


Die Entwicklung der menschlichen Individualität ist bedingt durch den Modus des Überlebens – und der ist im Kapitalismus geprägt vom Zwang des Marktes (vgl. ebd., S. 22f.). Die kapitalistische Produktionsweise versetzt die Menschen in sachliche Abhängigkeit: Die Produktion von Waren, die privat hergestellt werden und anschließend durch Tausch die Besitzer wechseln, geht einher mit einer andauernden sachlichen Abhängigkeit der Individuen, die sich nicht nur in der Notwendigkeit äußert, mit vollem Einsatz ums Überleben zu kämpfen, sondern in einer generellen sachlich vermittelten Vergesellschaftungsweise (vgl. Stadlinger&Sauer 2010, S. 206f). Die Beziehung der Produzierenden zueinander ist somit nicht eine unmittelbar menschliche, sondern zunächst eine Nicht-Beziehung: Die privaten Betriebe produzieren getrennt voneinander; das getrennt Hergestellte wird anschließend im Tauschprozess von Menschen aufeinander bezogen, indem sie ihre hergestellten Dinge äquivalent zueinander setzen. Entscheidend dabei ist nicht der Mangel oder das Bedürfnis der tauschenden Menschen, sondern der Wert der getauschten Produkte (vgl. bspw. Elbe 2015). Und genau dieses Verhältnis hat Herbert Marcuse vor Augen, wenn er von der gesellschaftlichen Überformung der menschlichen Bedürfnisse spricht.


Es sind also weder die Menschen frei, ihre Bedürfnisse zu erfüllen (immer noch herrscht bei den meisten Mangel, selbst wenn dabei unterschiedliche Formen von Mangel auftreten mögen); noch können sie sich sicher sein, dass ihre Bedürfnisse tatsächlich “individuell” sind, und nicht vom sie umgebenden gesellschaftlichen Kosmos hervorgebracht. Dieser Kosmos verlangt ganz bestimmte Dinge von den Einzelnen, wobei wir wieder bei der Frage nach Gestaltungsoptionen für die Einzelnen wären. Erfolgreich bei der Bezugnahme auf diese Welt ist, wer oder was Wert bringt. Und zwar historisch auf einmalige Weise erfolgreich; so erfolgreich, dass die Welt schnell nicht mehr wiederzuerkennen ist vor lauter produzierten Dingen und materieller wie immaterieller Konsequenzen dieser Warenproduktion. Und die Bedürfnisse, die den Anforderungen dieser historischen Logik entsprechen, haben die beste Aussicht auf Befriedigung; Bedürfnisse, die nicht dieser Logik entsprechen, kommen tendenziell gar nicht erst auf.


Marxistische Entfremdungskritik setzt immanent an, ohne die Frage nach der Herkunft ihrer Parameter offen zu lassen. Die Menschen entfremden sich Tag für Tag durch ihre produktive Tätigkeit, nicht weil sie sich von etwas Naturhaftem oder anderem Essentiellen entfernen, sondern weil sie auf eine Weise produktiv tätig sind, die an sich bereits dissoziativ wirkt (vgl. Brassier 2020, S. 126). Der Maßstab ist also die produktive Praxis der Subjekte, die empirisch-historischen Ursprungs ist und ihre Objektivität im Vollzug, nicht in der Theorie erhält.


Subjektivität wird dabei nicht einer unbestimmt eigensinnigen Welt gegenüber gestellt. Durch eine Theorie, die das verselbständigte Produktionsverhältnis der kapitalistischen Gesellschaft als Wirken einzelner Subjekte begreifen kann, wird überhaupt deutlich, dass es zwei Formen von Subjektivität gibt: Eine empirische und eine historische. Der Weltbezug der Subjekte ist, in Weiterführung einer Formulierung von Ingo Elbe, als Mensch-Ding-Ding-Mensch-Verhältnis zu fassen (vgl. Elbe 2014, S. 7f). Dass es zu so einer Welt kommt, in der Dinge miteinander in Beziehung treten, setzt wiederum menschlich-subjektive Tätigkeit voraus, denn: „Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen“ (Marx 1962, S. 99). Das dinglich-naturhaft erscheinende gesellschaftliche Verhältnis von Sachen ist in Wahrheit ein Verhältnis von Menschen, was im Umkehrschluss nichts anderes Bedeutet, als dass in der kapitalistisch geprägten Welt nicht Subjekt gegen Subjekt und Subjekt gegen (natürliches) Objekt steht, sondern eine Form von Subjekt gegenüber einer anderen: Die empirische Subjektivität der Individuen gegenüber der historischen Subjektivität der privaten Produktionsweise. Entfremdungs- wie Kapitalismustheorien müssen dieses Verhältnis ständig reflektieren und aktualisieren.


Diese Erkenntnis bietet auch eine präzise Bestimmung des Entfremdungsbegriffs: Die einzelnen Subjekte können durchaus daran scheitern, einen funktionierenden Bezug zur Welt aufzubauen, und sehen sich nach wie vor und tendenziell ohnmächtig einem natürlich erscheinenden Schicksal ausgesetzt. Gleichzeitig leben sie auf einem Planeten, der durch die historische Subjektivität des Kapitalverhältnisses vom Menschen so umfänglich wie nie zuvor angeeignet ist und weit mehr (menschlich produzierte) Güter enthält, als die Individuen zum Überleben brauchen; ihre sachliche Abhängigkeit von der Gesellschaft und die dabei perpetuierte Knappheit ist „nur“ ein äußerst wirkmächtiger Schein. Solange das empirische Subjekt keine Beziehung aufbauen kann zum historischen Subjekt, kann die gesellschaftliche Existenz des Menschen als entfremdet bezeichnet werden.


Dabei lässt sich jetzt menschliche Subjektivität als Form erkennen, die sogar gegen die eigene Auffassung kritisiert werden kann. Wenn die herrschende Logik der kapitalistischen Gesellschaft auch als kapitalistische Subjektform zu sehen ist, handelt es sich hierbei, simpel ausgedrückt, um eine systematische Unterlassung der vielen zugunsten der wenigen: Anstatt sich aufeinander als Menschen zu beziehen, sich zu assoziieren, führen die Menschen Subjekt-Objekt-Objekt-Subjekt Beziehungen, und stabilisieren dabei die Herrschaft weniger, die als Eigentumsanspruch, aber auch in Form der strukturellen Ausbeutung und Abwertung bestimmter Personengruppen auftritt und in der gewaltvollen Einhegung all derer, die der Reibungslosigkeit dieser Herrschaftsformen in die Quere kommen, ihre Exekution erfährt.


Subjekte, die gerne auf der Seite der Herrschaftslogiken wirken, oder auch schlicht glücklich sind in ihrer unterworfenen Rolle, sind trotz, oder vielmehr gerade wegen ihrer eigenen Zufriedenheit mit den Verhältnissen für ihre Subjektivität zu kritisieren; sind sie doch die Menschen, deren Wille identisch ist mit der repressiven Rationalität des Kapitalverhältnisses. In einer Gesellschaft, in der ein subjektiv bedingtes Verhältnis objektiv Verheerendes ausrichtet, sind die subjektiven Einschätzungen und Präferenzen der Individuen niemals unverdächtig.


Der produktive Anknüpfungspunkt einer Theorie, die das praktisch-dialektische Verhältnis von Subjekt und Objekt in der warenproduzierenden Gesellschaft in ihrer Entfremdungskritik auf den Begriff bringt, wären somit Fragen nach der Herrschaftssubjektivität: Wie entwickelt sie sich mit den Produktionsverhältnissen der entfremdeten Gesellschaft mit? Und wodurch wird sie herausgefordert, sowohl auf der Bewusstseinsebene der Individuen, als auch im praktisch-historischen Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion? Dabei geht es einer Entfremdungskritik trotz objektivem Geltungsanspruch und normativer Geladenheit nicht um eine positive Bestimmung des nicht-Entfremdeten Zustands oder der wahren subjektiven Willens- oder Bedürfnisbildung. Auch an Herbert Marcuses Ausführungen zur Wahrheit und Falschheit der menschlichen Bedürfnisse hat sich dahingehend nichts geändert:


„In letzter Instanz muß die Frage, was wahre und was falsche Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet werden, das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben. Solange sie davon abgehalten werden, autonom zu sein, solange sie (bis in ihre Triebe hinein) geschult und manipuliert werden, kann ihre Antwort auf diese Frage nicht als ihre eigene verstanden werden. Deshalb kann sich auch kein Tribunal legitimerweise das Recht anmaßen, darüber zu befinden, welche Bedürfnisse entwickelt und befriedigt werden sollten“ (Marcuse 1998, S. 26)


So gesehen sind wir als Subjekte sowohl in der Lage, die Welt zu verändern, als auch dazu, dafür zu sorgen, dass die (entfremdeten) Verhältnisse so bleiben, wie sie sind. Was es am Ende wird ist, wie Marxist*innen so oft sagen, eine Frage der Praxis. Wie sollen wir angesichts dieser Verzwicktheit Mut fassen, die Welt zu verändern und Rat Park zu bauen?



02 Xenofeminismus


Unter Rückgriff auf kapitalismuskritische Theorie lässt sich unser Verharren in vereinzelten Käfigen als entfremdetes gesellschaftliches Verhältnis begreifen, das wir durch unser subjektives Handeln immer auch selbst mit hervorbringen. Die Kritik trifft also nicht einfach nur “die anderen” oder “die da oben”, sondern immer auch uns selbst, insofern wir durch eigene Tätigkeiten die entfremdeten Verhältnisse reproduzieren.


Doch ein simples “zurück” scheint auch nicht möglich, da wir erst innerhalb dieser entfremdeten Verhältnisse zu dem werden, was wir sind, inklusive unserer Handlungsfähigkeit. “Zurück” können wir nur in handlungsunfähigere Zustände. Und Menschen, die einen Natur-Begriff haben, der naheliegt, dass es um ein “zurück zur Natur” ginge, übersehen, dass der Mensch ja ebenfalls Teil von Natur ist, und es alles andere als klar ist, was denn “die Natur” in Abgrenzung zu “dem Menschen” sein soll. Außerdem reproduzieren Argumentationen, die sich auf “die Natur” beziehen, verlässlich verschiedenste Ausbeutungsideologien - sowohl Rassismus als auch Sexismus basiert beispielsweise auf der Naturalisierung von sozialen Ungleichheiten, unter der bestimmte Menschen extrem leiden.

Eine mögliche Perspektive aus diesem Dilemma heraus bietet das Kollektiv Laboria Cuboniks. Die sechs Feminist*innen haben sich ausführlich mit ganz ähnlichen Fragen beschäftigt, und schreiben im Xenofeminist Manifesto:


“Anstatt in dem beschränkten Bereich der mikropolitischen Intervention zu verharren oder in vereinfachenden Fantasien von einer Rückkehr in eine idealisierte «natürliche Authentizität» zu schmachten, begreift Xenofeminismus die Entfremdung als erzeugenden Anstoß. Wir sind alle entfremdet. War das jemals anders? Wegen – und nicht trotz – unserer entfremdeten Situation können wir uns vom Schmodder der Unmittelbarkeit befreien. Freiheit ist nichts Gegebenes und ganz sicher keine «natürliche» Gegebenheit.


Entfremdung ist eine Wirkung und Funktion der Möglichkeit, Freiheit aufzubauen. Das «Gegebene» ist beweglich. Nichts ist starr. Alles ist für radikale Veränderung empfänglich – materielle Bedingungen ebenso wie gesellschaftliche Formen. Der bewegliche Boden von XF bedingt eine pragmatische, semi-poröse Ontologie, in der die intellektuelle Sklerose der Akademie und der Stillstand von Kritik ersetzt werden durch Mutation, Navigation und das Erproben von Horizonten.” (0X01)


Wenn wir es wagen, von Entfremdung auszugehen und uns auf die Möglichkeiten fokussieren, die wir dennoch - oder vielleicht auch gerade deshalb - haben, die Welt zu verändern, erscheint die Sphäre der privaten Reproduktion als Bereich, der prinzipiell als eben schlicht privat und irgendwie durch Familie / Liebesdienst / Frauen am Laufen erhalten wird. Hier können wir uns bewusst entfremden: Fremdheit herstellen dort, wo alles allzu vertraut und privat erscheint; entfremden von der Annahme, dass das durch natürliche Geschlechterverhältnisse etc schon irgendwie geregelt wird.


Der Versuch, uns dieses verschleierte, unbewusst strukturierte Verhältnis unserer unmittelbaren Reproduktion anzueignen, die der kapitalistischen / industriellen Produktion noch vorgelagert ist und auf den wir unmittelbar Zugriff haben (wenn wir nicht sehr reich sind und für alle reproduktiven Tätigkeiten andere Menschen ausbeuten können, machen wir es literally selber), wird so zu einem Versuch der bewussten Entfremdung. Der Bau von Rat Park beginnt beim bewusssten Aneignen unserer Reproduktionsverhältnisse.


Doch wie, wo und mit wem gehen wir das an? Vorhang auf für die Care-Werkstätten, als Orte der experimentellen Aneignung unserer Reproduktion und Enteignung verschiedener Herrschaftsverhältnisse. Wie(weit) können wir uns bewusst selbsttätig, subversiv und frei reproduzieren?



03 Care-Work: Reproduktion (in) dieser Gesellschaft - ausbeuterische Externalisierung von Care


Halten wir zunächst fest, was wir als Care-Arbeit begreifen. Im Kern geht es um Fürsorge, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zielt. Und für die Arbeit notwendig ist.


Matthias Neumann und Gabriele Winker haben in ihrem Beitrag “Solidarische Gesellschaft als Ziel - Care Revolution als Strategie”, der im Sammelband “Konkrete Utopien” erschienen ist, eine Taxonomie von Bedürfniskategorien entwickelt, durch die die Vielschichtigkeit von Bedürfnissen und Fürsorgetätigkeiten deutlich wird. Konkret führen sie Subsistenz, Schutz, Zuneigung, Verständnis, Partizipation, Muße, Kreativität, Identität und Freiheit als Oberbegriffe an, die Bereiche von Bedürftigkeit umreißen, ohne eine abschließende Aufzählung darzustellen.


Care Work, als die unsichtbare Arbeit, die anfällt, um verschiedenste Bedürfnisse zu befriedigen, bleibt dabei oft verschleiert, unbewusst und wird häufig nicht als Arbeit wahrgenommen. Eine Arbeit, die tendenziell von Frauen oder weiblich sozialisierten Personen verrichtet wird, welche die Reproduktion des Miteinanders auf individueller, interaktiver und gruppendynamischer Ebene sicherstellen.


In diesem Kontext stellt sich die Frage nach der Reproduktion, die in die ökonomischen Verhältnisse eingehegt ist. Verdinglichende Momente und ideologische Strukturen stabilisieren die bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Gleichzeitig birgt dieser Prozess auch transformatives Potential: Überall dort, wo Momente von Solidarität verwirklicht werden. Danach lohnt es sich, ausschau zu halten. Denn primär ist reproduktive Arbeit durch Externalisierung und Ausbeutung strukturiert.


Verschiedene Herrschaftsformen führen zu einer Externalisierung von Care-Arbeit, sodass manche Individuen nicht selbst für sich sorgen müssen, sondern andere diese Arbeit verrichten lassen, ohne im gleichen Maße etwas zurückzugeben. Dabei wird das ausbeuterische Verhältnis oft als naturgegeben angesehen. Sexismus externalisiert Care-Arbeit, indem Männer die Fürsorge an Frauen delegieren. Kapitalismus und Klassismus verwandeln Care in eine handelbare Ware, wodurch eine sexistische und rassistische Aufteilung entsteht - Frauen und Migrantinnen dominieren tendenziell prekäre Care-Berufe.


Imperialismus und Kolonialismus führen zu einer globalen Externalisierung, bei der der globale Norden von der systematischen Ausbeutung des globalen Südens profitiert, auch im Bereich der Care-Produkte. Speziesismus schließlich geht mit der mutwilligen Zerstörung von Lebensräumen und Leben anderer Lebewesen einher, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen.



04 Emanzipatorische Care Politics: Subjektiv-Objektiver Modus der Reproduktion & Verwirklichung von Individualität


Wenn wir all diese Problematiken ernst nehmen, kommen wir nicht umhin, uns zu fragen, wie sich Fürsorge anders gestalten lässt. Die beschriebenen Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen sind durch gesellschaftliche Konstellationen bedingt, die transformiert und überwunden werden müssen, wenn wir unserem eingangs postulierten Ziel weiterhin nachgehen möchten, Rat Park aufzubauen

.

Wenn wir uns für dieses Projekt an Laboria Cuboniks und dem Xenofeminismus orientieren wollen, setzen wir auf “Entfremdung als erzeugenden Anstoß”. Und fokussieren unsere Fürsorgeverhältnisse, im Modus der Entfremdung, als Kontext der Universalität von partikularer Bedürftigkeit (alle sind auf je eigene Weise bedürftig und benötigen immer auch andere, um dieser Bedürftigkeit gerecht zu werden) und als gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang von Notwendigkeit und Freiheit, von Natur und Kultur, von Gegebenem und Veränderbaren. Damit wir diese Fürsorgeverhältnisse auf eine Weise thematisieren (politisieren) können, dass uns das scheinbar unverfügbare und natürliche verfügbar und Teil unser selbstgestalteten Kultur wird, müssen wir sie begreifen. Auch hierfür steht der Xenofeminismus, mit einem klaren Plädoyer für (universalistische) Rationalität und (Techno-)Wissenschaft:


“Xenofeminismus ist ein Rationalismus. Wir lehnen die These ab, der zufolge Vernunft oder Rationalität «von Natur aus» ein ausschließlich patriarchales Unterfangen ist und sein kann. Nicht trotz der historischen Verknüpfung von Rationalität mit Männlichkeit, sondern wegen dieses elenden Ungleichgewichts, muss Feminismus ein Rationalismus sein. Wir weigern uns, daran zu glauben, dass Naturwissenschaften ein Ausdruck statt ein Aussetzen von Geschlecht bedeuten. Wenn die bestehende Techno-Wissenschaft von männlichen Egos dominiert wird, dann steht sie im Widerspruch zu sich selbst, und dieser Widerspruch kann wirksam eingesetzt werden. Durch den Anspruch auf Vernunft als Motor der feministischen Emanzipation des einundzwanzigsten Jahrhunderts erklärt Xenofeminismus das Recht für alle, als niemand Bestimmtes zu sprechen.” (0x04)


Wir wollen uns die Rationalitäten unserer Fürsorgebeziehungen aneignen und sie dadurch gestaltbar machen, obwohl oder gerade weil sie oft ideologisch verdeckt sind und deshalb meist als “natürlich” erscheinen”. Dabei nutzen wir die Erkenntnisse über Beziehungsweisen als Techno-Wissenschaft, womit auch eine Reflexion unseres Anspruchs einhergeht - allein schon deshalb, um uns im Klaren darüber zu sein, dass wir wertegeleitet in scheinbar “natürliche” Verhältnisse eingreifen. Es geht um die Verwirklichung eines freien Selbst- und Weltbezugs aller Individuen, und die Voraussetzung dafür ist die Befreiung von Ausbeutung und Herrschaft. Wenn alles bis hierhin gesagte ernstgenommen werden soll, wollen wir Freiheit, Autonomie im Sinne einer selbstbestimmten Abhängigkeit verwirklichen: Wir sind immer von anderen abhängig, können aber im besten Fall dazu beitragen, gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten, die diese Abhängigkeit nicht persönlich, herrschaftlich undoder ausbeuterisch ausfallen lässt. Sondern mit dem universellen Prinzips der selbstbestimmten Fürsorge verbindet.


Eine weitere begriffliche Orientierungshilfe zur Überwindung von problematischen weil herrschaftsförmigen, ausbeuterischen und nicht nachhaltigen, als “natürlich” erscheinden Care-Beziehungsweisen finden wir bei Mark Fisher, der “care without community” als Ziel formuliert hat:


“I have a lot of problems with the term ‘community’, largely because of the way it’s been easily appropriated by the right. But also, because it implies an in and an out. Some are in the community and some are out of it. ‘Care without community’ - isn’t that rather what we want? Where you can give people the care regardless of whether they belong to the community.” (Fisher 2020)


FIsher bringt so auf den Punkt, was bereits vorhin angeklungen ist. Und was vielleicht ein guter Ausgangs- und Zielpunkt eines Prozesses ist, der uns von schlechten, übergriffigen Abhängigkeiten befreit und dabei immer wieder aufs neue das zu realisieren versuchen muss, was er bezweckt.


Ziel ist es, individuelle Handlungsfähigkeit in solidarischen, zärtlichen Beziehungsweisen zu ermöglichen - und damit verbunden Perspektiven auf ein gutes, selbstbestimmtes Leben für alle Menschen greifbar zu machen, jenseits der Abhängigkeit von patriarchal strukturierten Familienkonzepten auf der einen und arbeitsamer Vereinsamung sowie rassifizierter und chauvinistischer Externalisierung von Care auf der anderen Seite. Dabei können wir gerade nicht auf personalisierte, unmittelbare Gemeinschaftslogiken (von Familien, Freundeskreisen, sozialem Engagement, politische Gruppen, lokalen Stammtischen etc) zählen, weil diese Gemeinschaften im althergebrachten Sinne genau zu den Problemen führen, die wir überwinden möchten: Patriarchale Strukturen, persönliche Abhängigkeite, Einsamkeit, schlechter Kollektivismus (hauptsache dem Kollektiv geht es gut, wenn auch Einzelne darunter leiden), Konkurrenzverhalten. Aber auch die dazugehörige Mystifizierung und oft geradezu religiöse Aufladung von Fürsorge, die die vielen problematischen Dynamiken noch zusätzlich verstärkt.


Stattdessen geht es darum, Sicherheit, Zärtlichkeit, Privatsphäre, echte Individualität (und damit auch die Möglichkeit für Faulheit und Müßiggang), kollektive Verantwortungsübernahme, mögliche Anonymität, Solidarität, herzustellen. Und somit nach universalisierbaren und nachhaltigen Standards emanzipatorische Beziehungsweisen zu verwirklichen.


Soweit die rationale Formulierung unseres Projekts, in dessen Zuge wir die Arbeitsschritte im Umgang mit unserer Bedürftigkeit begreifen möchten. Und darauf abzielen, uns in emanzipatorischer Weise von problematischen Auffassungen und Praxen von Fürsorge zu entfremden, im Sinne einer rationalen Aneignung dieser Verhältnisse, die uns allzu oft in herrschaftsförmigen Systemen halten und gleichzeitig das potential zur universellen Selbstverwirklichung bergen.


Den Raum, den wir brauchen, um das alles ernsthaft gemeinsam anzugehen und die Bausteine für Rat Park zu entwickeln, könnten wir Care-Werkstatt nennen.


Eine Werkstatt für die Entwicklung radikaler Probleme für schon existierende Lösungen: Eigentlich sind, wie wir gesehen haben, viele Aspekte unserer Beziehungsweisen als bedürftige Wesen und insbesondere die Probleme dabei bereits ausführlich untersucht und verstanden. Und in vielerlei Hinsicht ist klar, was zu tun ist. Gleichzeitig fehlt uns zu oft ein Problembewusstsein für genau diese Aspekte in unserem Alltag. Wir sind zu sehr auf eine schlechte Weise verstrickt mit schlechten Fürsorge-Beziehungsweisen. Und denken oft nicht einmal darüber nach, welch enorme Rolle diese Ebene in unser aller Leben spielt. Stattdessen nehmen wir die in dieser Hinsicht schlechte Organisierung miteinander und Beziehung aufeinander als “natürlich” gegeben an, sind unmittelbar Teil dieser Verhältnisse - und eben noch zu wenig entfremdet. Vielleicht müssen wir uns viel öfter gegenseitig dabei helfen, uns an diesen Verhältnissen da, wo wir am unmittelbarsten Teil von ihnen sind (im Privaten, in unseren Familien, Partnerschaften, Freundschaften oder Freizeitgruppen), mehr anzustoßen. Radikale Probleme bzw. ein radikales Problembewusstsein da zu entwickeln, wo zu oft alles schon irgendwie passt, weil am Ende sowieso altbekannte Ausbeutungsstrukturen in Anspruch genommen werden, die gleichzeitig problemlos romantisiert bzw. als Natur verklärt werden können; da, wo gerade kein oder viel zu wenig konkretes Problembewusstsein vorhanden ist.


Vielleicht können Care-Werkstätten Orte sein, an denen die Vereinzelungserfahrungen, die ebenfalls verlässlich mit herkömmlichen Fürsorgebeziehungen einhergehen, kollektiviert werden können; ein kollektiver Umgang mit der oft so überwältigenden Einsamkeit in diesen Fragen gefunden werden kann. Und Care Arbeit koordiniert wird: Beim Austausch bzgl verschiedener Ansatzpunkte der emanzipatorischen Entfremdungsbewegungen; durch die Reflexion verschiedener Bedürfnisse oder die Diskussion verschiedener Wertvorstellungen und Handlungsweisen; als Raum für Aushandlung von Konflikten. Wir wissen nicht, wie genau wir erfolgreich aus unseren jeweiligen herrschaftsförmigen Abhängigkeiten heraustreten können, bzw scheitern in unseren Alltagen immer wieder daran, dies zu tun. Aber wir können vorhandenes Wissen und konkrete Kapazitäten für uns gegenseitig nutzbarer machen. Und uns in einem gemeinsamen Prozess der Entfremdung wieder und wieder dazu bringen, Beziehungen anders zu führen.


Dieser Prozess ist besonders relevant für alle bereits aktivistisch engagierten Menschen. Aktivismus, der mehr Kapazitäten fordert als schafft, mündet oft in Aktivismusburnout bzw. funktioniert oft nur so lange, wie er nicht mit Lohnarbeit und Familie in Konflikt tritt. Care-Werkstätten rufen Aktivisti dazu auf, solidarische Fürsorgepraktiken ins Zentrum ihres Handelns zu stellen. Aktivismus darf nicht karriereähnlich verlaufen und die gleichen Ausbeutungsformen hervorbringen wie andere Herrschaftsstrukturen. Außerdem verdrängen auch die Zielvorstellungen, Forderungen und Utopien vieler Aktivisti die Frage nach Care und schaffen es nicht, im Zuge ihrer aktivistischen Praxis bereits die bessere Gesellschaft herzustellen, von der sie so sehr träumen.


Der Abschluss dieser Ausführungen ist der Beginn einer Praxis, die immer wieder ihren Raum finden und verwirklicht werden muss, in einer Welt, die strukturell genau gegenteilig eingerichtet ist. Verdrängung statt Bewusstsein, Privatisierung statt öffentlicher Aushandlung, Vereinzelung statt kollektiver Verantwortung, Romantik statt Care-Commitments, Vermeidung statt Konflikt und Aushandlung, (neue) Mythen statt (emanzipatorische) Aufklärung. Und doch können und wollen wir an dem Ansinnen festhalten, für das wir Rat Park als Analogie verwendet haben. Räume gestalten, in denen die allgemeine Erfahrung subjektiv besser ist als das High von Drogen.


Wir enden unsere Assoziationen und Reflexionen zu dieser Thematik mit einigen Fragen und einem Aufruf. Zuerst die Fragen: Welche Überzeugungen leiten unsere Handlungen? Wie können wir zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen beitragen? Was wollen wir als Einzelne zu einer idealen, fürsorglichen Allgemeinheit beitragen - und was nicht? Was lässt sich am besten gegen den Missbrauch menschlicher Beziehungen (Sexismus, Rassismus, ökonomische Ausbeutung etc.) unternehmen? Die Care-Werkstatt lädt dazu ein, diese Fragen gemeinsam zu stellen und Antworten zu finden.


Der Aufruf ganz zum Schluss lautet: Divest the power structures of your daily life! Wenn wir ernsthaft den Versuch wagen wollen, ausgehend von unseren Fürsorgebeziehungen eine bessere Welt zu gestalten, und dabei rational handeln möchten, kommen wir nicht darum herum, bewusst Beziehungsweisen, ToDos und Handlungen zu depriorisieren, die zur Reproduktion der Verhältnisse Beitragen, die wir überwinden wollen. Wie streikende Arbeiter*innen haben wir hierbei auch eine Wirkmächtigkeit: Gerade die Verhältnisse, die durch Ausbeutung unserer individuellen Kapazitäten stabilisiert werden, geraten ins Wanken, wenn wir uns verweigern. Wenn wir auf Karriere verzichten, Care Arbeit möglichst nicht exklusiv in Familien oder romantischen Zweierbeziehungen leisten, und uns auch in anderen Fürsorge-Kontexten nicht aufarbeiten, sondern uns auf die Beziehungen in unserem Leben konzentrieren, die wir mit Menschen gestalten, die ebenfalls von einem emanzipatorischen Interesse geleitet werden, kommen wir einer besser eingerichteten Welt ganz praktisch näher. Für wen, was und wie wir uns dabei konkret einsetzen und engagieren, bleibt dabei jede*r von uns am Ende selbst überlassen - als erstes Aufscheinen einer wirklichen individuellen Handlungsdimension, die auszukundschaften so faszinierend und begeisternd sein kann wie die besten Rauschzustände.




Referenzen


Adorno, Theodor W. (1977): Dialektische Epilegomena. Kulturkritik und Gesellschaft, Gesammelte Schriften 10: 739-82.


Brassier, Ray (2020). Concrete-in-Thought, Concrete-in-Act: Marx, Materialism, and the Exchange Abstraction.


Elbe, I. (2014). Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas. Habermas und der Historische Materialismus. Freiburg: Alber, 123-150.


Elbe, I. (2015). Entfremdete und abstrakte Arbeit, zuletzt aufgerufen am 23.08.2020 unter http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/texte/Entfremdete-und-abstrakte-Arbeit


Fisher, Mark. "Why mental health is a political issue." The Guardian 16.7 (2012): 2012.


Fisher, Mark. F Postcapitalist desire: the final lectures. Watkins Media Limited, 2020.


Jaeggi, Rahel (2005): Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt a. M./New York: Campus, S. 40-70.


Laboria Cuboniks: Xenofeminism. A politics for alienation. 2018 https://laboriacuboniks.net/manifesto/xenofeminismus-eine-politik-fur-die-entfremdung/


Marcuse, Herbert (1998 [1967]): Der eindimensionale Mensch. Neuwied/Berlin: Luchterhand


Marx, Karl (1962 [1867]): Das Kapital. 1. Band. Marx-Engels-Werke Band 23. Berlin: Dietz; Kap.: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, S. 85-98.


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Neumann, M. & G. Winker: Solidarische Gesellschaft als Ziel - Care Revolution als Strategie, in: Neupert-Doppler (Hg.): Konkrete Utopien, Stuttgart 2018, S. 112-129


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