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Utopia & Lost Futures: Zur Philosophie des Naturschönen

Juni 2023. Vortragsnotizen von David Suica



„Mögen immer die Worte von der Natur abprallen, ihre [stumme] Sprache verraten an die, von welcher jene qualitativ sich scheidet – keine Kritik der Naturteleologie kann fortschaffen, dass südliche Länder wolkenlose Tage kennen, die sind, als ob sie darauf warteten, wahrgenommen zu werden. Indem sie so strahlend unverstört zum Ende sich neigen, wie sie begannen, geht von ihnen aus, nicht sei alles verloren, alles könne gut werden“ (Adorno, Ästhetische Theorie)


Für Kant ist die ästhetische Erfahrung eminenter Weise eine Erfahrung ohne Begriff. Der Gegenstand einer Erfahrung des Schönen ist nicht konstituiert durch Begriffe, die wir dem Objekte zum Zwecke seiner Einheit für uns zugrunde legen, sondern ist allein bezogen auf das subjektive Gefühl der Lust oder Unlust, dass der Gegenstand dem wahrnehmenden Subjekt bereitet. Dennoch liegt Kant zufolge der ästhetischen Erfahrung eine objektive Dimension zugrunde, die es möglich macht, das beim Anblick des schönen Gegenstandes ausgelöste Gefühl der Lust oder Unlust jedem anderen vernünftigen Subjekt zuzumuten.


Diese objektive Dimension ist verankert an der Schnittstelle zwischen der Form des schönen Gegenstandes und den Vorstellungskräften (Einbildungskraft und Verstand) vernunftbegabter Subjekte, die aller begrifflichen Erkenntnis der Welt zugrunde liegen. Genauer gesprochen ist sie verankert in dem Prozess, den die Form des schönen Gegenstands in den Vorstellungskräften des Subjekts auslöst und die Kant als ein freies Spiel dieser Vorstellungskräfte bezeichnet:

„Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hiebei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt“ (Kritik der Urteilskraft, B29).

Dieses Zusammenspiel der wahrgenommenen Form des Gegenstands und der Vorstellungskräfte als auch der Vorstellungskräfte untereinander, das der lustvollen ästhetischen Erfahrung zugrunde liegt, zeugt davon, dass menschliche Vernunft in ihrer Freiheit situiert ist in der Welt der Objekte, welche sie zu erkennen trachtet; dass sie mit ihr in einem ursprünglichen Kontakt steht, welcher die Grundlage für alle spätere begriffliche Erkenntnis darstellt, anstatt über dieser Welt zu schweben und ihr die Begriffe rein äußerlich überzustülpen. Die ästhetische Erfahrung „verweilt bei der Anschauung, überlässt sich ihrer Struktur und beurteilt sie ästhetisch, ohne ihr eine (begriffliche) Form aufzuerlegen. Und ein Teil der Gewissheit, dass ästhetische Beurteilung dieses Verweilen bei dem sinnlich Gegebenen ermöglicht, ergibt sich aus dem Ausschluss, vollständiger Verbegrifflichung“ (Bernstein, Das Naturschöne, S. 75-76).


Die ästhetische Erfahrung markiert so einerseits die Grenze begrifflicher Erkenntnis, welche sich in ihrer Abstraktion vom sinnlich Gegebenen, ihres Kontakts zur Welt nie sicher sein kann und bildet so auch gleichzeitig die Grundlage aller „Erkenntnis überhaupt“ (Kritik der Urteilskraft, B27, 28) indem sie diesen ursprünglichen Kontakt der Erkenntniskräfte und der Welt in der Erfahrung der Lust am ästhetischen Gegenstand offenbart. Diese Doppelstellung der Erfahrung des Schönen, als sowohl Grenze und Grund, offenbart sich für Kant nirgendwo so eklatant wie in der Erfahrung des Naturschönen (im Gegensatz zur Erfahrung des Kunstschönen). Denn „die […] an Mannigfaltigkeiten bis zur Üppigkeit verschwenderische Natur, die keinem Zwang künstlicher Regeln unterworfen ist“ (KU, B72, 73) hindert durch den Reichtum ihrer Eindrücke den Verstand daran, ohne große Anstrengung zu ihrer Verbegrifflichung fortzuschreiten und hält so Einbildungskraft und Verstand in dem freien Spiele, welches die Grundlage ästhetisch erfahrener Lust bildet.


In der ästhetischen Erfahrung der Natur findet das Subjekt sein wirkliches, nicht rein durch es selbst erzeugtes Anderes, anstatt überall nur auf die durch den Verstand selbst gesetzten Formen in der Welt zu stoßen und erkennt gleichzeitig, qua ästhetisch erfahrener Lust, dass es einen Platz hat in dieser Welt, die nicht es selbst ist: „Gerade weil die Wilde Schönheit zwar ästhetisch beurteilt werden kann, sich begrifflicher Subsumtion aber entzieht, können wir sicher sein, dass unsere Erfahrung sinnlicher Vielheit in reflektierender Einheit, also die sinnliche Erfahrung der freien Gesetzmäßigkeit im Einklang mit der Welt und der Natur steht; statt dass der Geist nur seine eigenen Bestimmungen a priori in der natürlichen Welt gespiegelt findet. Die 'Üppigkeit' der Natur verhindert, dass wir ihr unsere Begriffe aufzwingen“ (Bernstein, 2021, S. 77) und signalisiert uns gleichsam durch ihre Schönheit, dass sie einer richtig gestellten Vernunft zugänglich wäre.


Dass der letzte Satz im Konditional formuliert ist, signalisiert an dieser Stelle, dass wir den Rahmen der kantischen Ästhetik verlassen und zu einer historisierten Betrachtung des Naturschönen übergehen, wie sie sich in Adornos Ästhetischer Theorie findet. Denn es stellt sich die Frage, was mit der Erfahrung des Naturschönen passiert in einer Welt, in der die Natur nicht mehr nur ideell, sondern zunehmend auch materiell zum Produkt einer ihr in weiten Teilen feindlich gesinnten Gesellschaft wird. Die Erfahrung des Naturschönen bleibt durch einen solche Prozess nicht unberührt. Die Grenze, die sie der begrifflichen Hybris des frühen Bürgertums noch aufzeigen konnte, ihre kritische Funktion könnte man sagen, droht zu verschwinden und der unmittelbare Kontakt zur Welt, den sie signalisierte, wird zur Ideologie in einer Gesellschaft, die diesen Kontakt zusammen mit der ihm zugrunde liegenden Welt zunichtemacht: „Die unmittelbare Naturerfahrung, ihrer kritischen Spitze ledig und dem Tauschverhältnis – das Wort Fremdenindustrie steht dafür ein – subsumiert, wurde unverbindlich neutral und apologetisch: Natur zum Naturschutzpark und zum Alibi. Ideologie ist das Naturschöne als Subreption von Unmittelbarkeit durchs Vermittelte“ (Adorno, 2016, S. 107).


Dennoch bleibt das Naturschöne, als die Erfahrung dessen, was nicht immer schon durch den Menschen selbst produziert ist, „die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität“ (Adorno, Ästhetische Theorie). Je weiter der Bann der Identität jedoch um sich greift, desto prekärer wird diese Erfahrung: „Solange er waltet, ist kein Nichtidentisches positiv da“ (ebd.). Das Naturschöne wird zu einer paradoxen Figur: Ihre Erfahrung bleibt flüchtig und an keiner Stelle kann man sich ihrer gewiss sein und doch bleibt sie in dieser Prekarität der Ort der Hoffnung gegen einen Lauf der Zeit der nicht mehr nur unseren Platz in der Welt sondern diese Welt selbst zu untergraben droht: „Daher bleibt das Naturschöne so versprengt und ungewiß wie das, was von ihm versprochen wird, alles Innermenschliche überflügelt. […] Das Naturschöne teilt die Schwäche aller Verheißung mit deren Unauslöschlichkeit.“ (Adorno, Ästehtische Theorie)



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