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Archiv - AssoziationEn//Agora: Kritik der Flüchtlingspolitik

Bereits vor der Vereinsgründung assoziierten sich einige der jetzigen Mitglieder von Assoziation:E in Form von Agora München. Dabei handelte es sich um ein offenes Dialogformat, bei dem auf Basis verschiedener wissenschaftlich fundierter Beiträge die Unerträglichkeit der herrschenden Verhältnisse reflektiert und diskutiert wurde - der Vorläufer von Assoziation:E:n. Mit einer entsprechenden Archiv-Reihe möchten wir einige der in den Jahren 2018 - 2020 besprochenen Themen wieder zugänglich machen und präsent halten.


Als Grundlage für eine Veranstaltung zur Frage von Asyl und Flucht wählten wir den Text "Kritik der Flüchtlingspolitik" der “Redaktion Polémos”, der im März 2016 auf dem AG Kritische Theorie Blog erschienen ist:



Gegen Flüchtlingspolitik

Es gibt keine gute Flüchtlingspolitik. Zumindest dann nicht, wenn das Gute, auf das hier rekurriert wird, keinen partikularen oder instrumentellen Sinn, sondern einen moralischen, und das kann nur heißen: universellen, Sinn hat. Der Unterschied zwischen demjenigen, der glaubt in Fragen der Flüchtlingspolitik mitreden zu müssen, und demjenigen, um den es bei dieser Politik geht, der Unterschied also zwischen dem Flüchtlingspolitiker – egal ob er wirklich etwas zu entscheiden hat oder nicht – und dem Flüchtling, ist doch, dass der erstere in einem Land lebt (und im Regelfall auch leben darf) in dem leben zu dürfen für letzteren nicht selbstverständlich ist, sondern beantragt werden muss. Der deutsche Flüchtlingspolitiker darf „selbstverständlich“ in Deutschland leben, weil er in Deutschland geboren ist – anders als der Syrer, Kosovare oder Kongolese. Von einem universellen Gesichtspunkt (und wer hier von Moral nicht sprechen mag, darf ihn auch Wahrheit oder Vernunft nennen) aus kann aber aus dem Zufall des Geburtsortes gar nichts folgen: keine moralische Berechtigung darüber zu befinden, wer an einem bestimmten Ort leben darf und wer nicht. Flüchtlingspolitik ist also weder eine an sich neutrale Sache, die nur von den falschen Leuten betrieben wird, noch ein „neutraler“ Politikbereich, der gut oder schlecht sein kann – sie ist an sich schon Index des Falschen. Auch ist das Asylrecht nicht die nette und menschliche Seite staatlicher Gewalt, sondern als Kriterienkatalog darüber, wer sich in einem Land zu Recht oder Unrecht aufhalten darf, ein perennierender Skandal.


Da die Welt unvernünftig in konkurrierende, partikulare Staaten eingerichtet ist, lässt sich überhaupt nur darüber diskutieren, wer in Deutschland oder Europa leben darf und wer nicht, sofern die Grundlage dieser Diskussion verdrängt wird: die Gewalt der Staaten. Von dieser Gewalt zehrt die Position des linken Flüchtlingspolitikers, der mit „unserer“ moralischen Verpflichtung argumentiert, „diesen“ Menschen, die da kommen, zu helfen, nicht minder denn der rechte, der um „unsere“ Kultur oder „unseren“ Wohlstand fürchtet. Die Bedingung der Möglichkeit der ersten Person Plural ist das unverdiente und durch nichts als Gewalt verteidigte Privileg des Geburtsorts. Für je menschenfreundlicher sich der Flüchtlingspolitiker hält, desto mehr verdrängt er die Gewalt, die die unaufhebbare Grundlage seiner Menschenfreundlichkeit ist. Noch sein Mitleid, dessen Fehlen der eher linke den eher rechten Flüchtlingspolitikern vorwirft, nährt sich, wie deren Kälte, von der Position Subjekt, nicht Objekt, der „Flüchtlingsfrage“ sein zu können. Spinoza hat wohl nicht zu Unrecht vermutet, dass Mitleid und Neid sich aus derselben Quelle speisen – je nachdem ob man das begehrte Objekt besitzt oder nicht, (und er hat auch gesehen, dass, wer sich weder durch Mitleid, noch, wie er sich ausdrückt, durch Vernunft bewegen lässt, einem anderen zu helfen, zu Recht unmenschlich genannt wird). Darum sind die Hell- und die Dunkeldeutschen gar nicht soweit voneinander entfernt, wie sie ihre wechselseitige Verachtung füreinander dünkt.


Die sich selbst feiernde Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge, wie sie noch im Sommer zu beobachten war, dürfte sich nicht zuletzt aus dem Wunsch und der Gewissheit gespeist haben, dass sich an der gesellschaftlichen Hierarchie zwischen dem Almosenspender und -empfänger so schnell nichts ändern wird. Dieser Wunsch malt sich den Flüchtling als den per se guten und entweder tendenziell auf Dauer unmündigen und hilfsbedürftigen Flüchtling, der idealerweise als Familie, Kind oder Frau nach Deutschland kommt (was etwa die hohe Anzahl an Spenden von Kinderspielzeug, und -wäsche dokumentiert) oder aber als den gut ausgebildeten, den man sofort als Chance begreift dem Pflegenotstand abzuhelfen, als ob sie alle Pfleger wären oder sein wollten – nicht minder ein Zerrbild als der neidvolle Blick der Dunkeldeutschen auf den Flüchtling, dem angeblich alles hinterhergetragen wird. So würde es kaum wundern, wenn so mancher, der noch im Sommer auf dem Bahnsteig applaudierte, mittlerweile zu denen gehört, die im Internet und in Bekanntenkreise mit dem Bekenntnis hausieren, dass es jetzt aber mal genug sei.


Wenn Vernunft universell ist und etwas Anderes als die instrumentelle Vernunft des partikularen Interesses eines Staatsbürgers, dann gibt es keinen vernünftigenGrund auch nur einem Menschen die Einreise und den Aufenthalt zu verweigern, ja es gibt noch nicht mal eine Position, die vernünftigerweise eingenommen werden kann, von der aus sich darüber diskutieren ließe. Ein gewiss wenig politik- und realitätstaugliches Ideal für den Asylpolitiker. Weniger realitätsfremd scheint der Grundsatz, dass „wir“ doch nicht „alle“ aufnehmen können. Er suggeriert kein abstraktes Ideal zu sein, sondern konkret und der Realität angemessen. Aber wer ist in diesem Satz alle? Alle knapp sieben Milliarden Menschen weltweit? Alle die irgendwo auf der Flucht sind? Alle die nach Deutschland kommen wollen oder nur alle, die es dann auch bis nach Deutschland schaffen? Das „alle“ ist eine Abstraktion, die einfach nur für „zu viele“ steht: „Wir können nicht zu viele aufnehmen“ ist jedoch nur scheinbar konkret, in Wahrheit selbst ein analytischer Satz, steckt doch im „zu viele“ schon das „Nichtkönnen“ und vice versa. Er beteuert nur Realitätstauglichkeit, allerdings ohne sich wirklich auf Realität zu beziehen. Welches Kriterium macht denn aus Vielen, selbst aus historisch einmalig Vielen plötzlich „zu viele“? Und „zu viele“ für wen oder was? Zu viele um das Niveau „unseres“ bundesrepublikanischen Wohlstands aufrechtzuerhalten? Eines Wohlstands der auf der historischen und geographischen Zufälligkeit gründet, in einer relativ frühen Phase in den kapitalistischen Weltmarkt eingetreten zu sein (und die im 19. Jahrhundert damit einhergehende Armut führte zu einer Massenauswanderung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ in die USA). Ein Wohlstand, der nicht zuletzt auf ungesühntem Krieg, Zwangsarbeit und Judenvernichtung basiert, darunter auch die Verwüstungen etwa in Südosteuropa durch die Groß- und Urgroßväter, deren Enkel und Urenkel den Nachfahren auch der Verwüsteten als „Wirtschaftsflüchtlinge“ heute die Teilhabe am bundesrepublikanischen Wohlstand verweigern. Die Gefährdung dieses Wohlstands mag wohl prinzipiell real sein und doch ist sie reichlich abstrakt. Es gibt keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der Zahl der Flüchtlinge und dem, was sich jemand im Monat von seinem Lohn kaufen kann.



Kritik des Asylrechts, Deutsche und europäische Asylpolitik in und außerhalb Europas, Willkommenskultur und Panik, Anmerkungen: Weiterlesen auf








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